Ein Landsberger sollte die Heimat verteidigen
Der 30. Januar 1945: Landsbergs letzter deutscher Tag
Mit Zustimmung des Autors und der Herausgeber des Landsberger Heimatbuches (1976 in Herford) veröffentlichen wir — als verkürzten Vorabdruck — einen Erlebnisbericht über Bemühungen der Wehrmacht, Landsberg zu verteidigen. Die Legende von einer angeblichen „Schlacht um Landsberg“ wird damit von dem für die unmittelbare Verteidigung der Stadt am 30. Januar 1945 verantwortlichen deutschen Offizier zerstört. Die Darstellung dient der historischen Wahrheit, die Zehntausende unserer Landsleute am eigenen Leibe erlebt haben.
Heute, wo ich auf Bitten lieber Heimatfreunde diese Erinnerungen niederschreibe, sind genau 30 Jahre vergangen seit jenem letzten deutschen Tag unserer Heimatstadt. In ihr habe ich den ersten Tag meines Daseins erlebt, und durch besondere Fügung habe ich in Landsberg die Zeit vom 25. bis 30. Januar 1945 und damit ihren letzten deutschen Tag aktiv und letztlich doch mit gebundenen Händen ohne Möglichkeit, ihr Geschick zu wenden, miterlebt.
Als Angehöriger des Ski-Jäger-Bataillons 4, das als Heereseinheit im Juni 1942 aufgestellt worden war, kam ich nach längerem Lazarettaufenthalt 1944 zum in Kroatien stationierten Reserveregiment und wurde von dort Mitte Januar 1945 zu einem Kursus in Hinterpommern kommandiert.
... als ich mich nach abenteuerlicher Fahrt auf dem Truppenübungsplatz ... melde, auch dort ein völliges Durcheinander, kein Kursus, keine Verwendung! Befehl: „Melden beim Standortältesten in Landsberg (Warthe).“ Also zurück, wo Frau und Kind unterdes nach dreitägiger Fahrt aus Ostpreußen über Danzig - Stettin - Küstrin gesund — wenn auch halb verhungert — angekommen waren. Die elterliche Wohnung wurde schnell für den Zuzug etwas umgeräumt und hergerichtet; denn hier hofften wir, ja vorerst bleiben zu können.
Es war mittlerweile der 25. Januar. Bei der Meldung in der Strantzkaserne wurde ich für die „Heldengreif-Aktion“ = Auffangstelle eingeteilt. Unsere Aufgabe: Aus den noch in Ausbildung befindlichen, aus Genesenen, festgehaltenen Urlaubern und Stammpersonal der Garnison Einsatzkompanien aufzustellen, auszurüsten und zum Halten der „Obra-Bunker-Linie“ in Marsch zu setzen; denn die war bereits durch den unaufhaltsamen Vormarsch des Feindes bedroht. Über den Kampfwert dieser Einheiten, bei denen sich die wenigsten kannten, braucht man kein Wort zu verlieren. Wenige Tage später sollte ich es selbst erfahren: Zug- und Gruppenführer, meist ohne jede Kampferfahrung, Kammer- und Küchenbullen, die beteuerten, nie das MG 42 oder die Panzerfaust — was alles reichlich vorhanden war — in der Hand gehabt zu haben, auch ohne Kampfeswillen, voll tödlicher Angst, in russische Gefangenschaft zu geraten.
Während die Kreisleitung die Bevölkerung über Stadtfunk in den nächsten Tagen täglich weiter täuschte und beruhigte, wußten wir beim Stab, daß unterdes Woldenberg, Friedeberg und Driesen in russischer Hand waren und der Vormarsch von Norden und Osten auf Landsberg — allerdings verlangsamt — weiterging.
Als ich am 28. Januar abends zufällig erfuhr, daß auf dem Bahnhof noch ein letzter Zug in Richtung Berlin unter Dampf stehe, holten wir schweren Herzens die Kinder aus den Betten, setzten die Schlaftrunkenen zu dem weiter verminderten Gepäck auf Rodelschlitten und fuhren durch den Stadtpark zum Bahnhof. Wirklich fand ich für Frau, Kinder und Mädchen noch Platz in einem Abteil, allerdings nur deshalb, weil dort Sitze und Fenster fehlten.
In den Morgenstunden des 29. Januar fuhr der Zug dann wirklich ab bis nach Fredersdorf bei Berlin. Ich hatte natürlich bei meiner Dienststelle zurückbleiben müssen, wo ich dann am 30. Januar morgens selbst zum Führer eines wie oben geschilderten Haufens ernannt wurde. Durch Befehl des Standortältesten, eines Generals, dessen Namen ich vergessen habe, wurden mir weiter sechs Panzer unterstellt, die sich auf der Friedeberger Chaussee in der Nähe des Friedhofes befinden sollten, sowie eine Kompanie „Leibstandarte“, die in einem der Häuser der Landesanstalt Quartier bezogen haben sollte. Mein Befehl: „Mit dieser starken Einheit, dem Feind das mittlerweile in seiner Hand befindliche Stolzenberg wieder zu entreißen!“ Mein Nachbar in Gegend Lorenzdorf sollte eine ungarische oder rumänische Einheit sein.
Nach Empfang von Ausrüstung, Munition und Verpflegung und eiligster Besetzung mit wie bereits charakterisierten Unterführern, ließ ich die Kompanie unter dem Befehl eines mir natürlich auch unbekannten Leutnants in Richtung Friedhof an der Friedeberger Chaussee abrücken, während ich selbst noch einmal nach Hause zur Hindenburgstraße 17 eilte, um mich von meinen Eltern zu verabschieden und mir von meiner Mutter ein Bettlaken als Tarnschutz über dem Feldgrau geben zu lassen. Damals lag ja alles unter einer dicken Schneedecke.
Als ich dann an der Sammelstelle eintraf, mußte ich feststellen, daß statt der mir unterstellten sechs Panzer nur zwei vorhanden waren, die angeblich weder voll aufgetankt noch genügend mit Munition versehen waren. Die jungen Kerle der „Leibstandarte“ lagen völlig abgekämpft in bleiernem Schlaf, so daß sie kaum zu wecken waren und gleich wieder einschliefen. Andererseits aber sah man durchs Fernglas deutlich die bekannte Silhouette der russischen T 34 bereits zwischen Stolzenberg und Landsberg auf der Höhe etwa da, wo der Weg von Lorenzdorf nach Wormsfelde die Friedeberger Chaussee kreuzt. Angesichts dieser Lage baute ich zunächst aus meiner Truppe eiligst eine Verteidigungslinie von Maschinengewehrnestern zwischen Friedeberger Chaussee und dem Bahr'schen Gut „Oberhof“ auf und versuchte, vom IG-Farbenwerk aus telefonisch Verbindung mit dem General zu bekommen. Das ganze Werk menschenleer, alle Räume offen, aber die Leitungen tot ... vielleicht die Post nicht mehr besetzt? So schickte ich einen Leutnant zurück, dem General die Lage zu melden und neue Befehle zu erbitten; während ich als Gefechtsstand ein kleines Gehöft rechts der Chaussee bezog, das auch bereits verlassen war, mit deutlichen Spuren eiliger Flucht: offene Schränke und Kästen. Die beiden Panzer hatte ich zu meiner Verfügung in der Nähe, mußte mir aber von dem Kommandanten sagen lassen, daß sie bei der schnell hereinbrechenden Dämmerung kaum noch einsatzfähig seien, da ihre Zieleinrichtung der russischen nicht gewachsen sei. Der Russe schien indessen an einen Angriff hier nicht zu denken; ab und zu war aus der Gegend Lorenzdorf und Zechow vereinzeltes Schießen zu hören.
Endlich kam mein Leutnant aus Landsberg zurück, erregt und bleich: „Der General ist weg, in Richtung Westen, ohne Befehl für uns hinterlassen zu haben oder uns bloß zu benachrichtigen. Die Kaserne fast leer!“
Eine feine Lage! Da saßen wir also richtig in der Patsche!
Unterdessen war es völlig dunkel geworden, etwa 19 Uhr, als plötzlich, ohne für uns erkennbare Ursache, in Lorenzdorf Flammen aufloderten und die dortige verbündete Kompanie zum Feinde überlief, während offenbar von Zechow aus feindliche Panzer in Landsberg eindrangen, zur Einschüchterung der Bevölkerung wild um sich knallend; denn eine Truppe, die sich ihnen entgegengeworfen hätte, gab es dort ja nicht. Für uns hieß das nun, unserem General nach Westen folgen, mit nördlicher Umgehung der Stadt. Durch Melder wurden die einzelnen Stützpunkte benachrichtigt, mit Mühe die Kameraden der „Leibstandarte“ aus ihrem totenähnlichen Schlaf gerüttelt — wie sich dann zeigte, hatte die Kompanie auch nur noch etwa Zugstärke —, der Weg festgelegt und den einzelnen Führern beschrieben: „Wormsfelder Straße — Schönfließpark — Überquerung der Kladowstraße — Steinstraße — Anckerstraße — Sammelpunkt Kaserne an der Soldiner Chaussee (Flexkaserne). Reihenfolge: 1. Panzer, dann alles Fußvolk, Schluß der 2. Panzer, auf den ich mit einer Gruppe Leibstandarte aufsitzen wollte.“
Etwa gegen 21 Uhr setzte sich die Spitze in Marsch, mein Panzer gegen 22 Uhr. Über der Stadt lag Stille, gelegentlich durch einen Schuß unterbrochen, keinerlei Feuerschein. Das Feuer in Lorenzdorf längst erloschen, auch sonst nirgendwo Kampflärm. Bei unserer Durchfahrt alles totenstill, dunkel, menschenleer, geradezu gespenstisch.
Aufgang zur General-von-Strantz-Kaserne an der Lugestraße.
Am Treffpunkt wies ich neu ein, in Richtung Merzdorf, dann Chaussee in Richtung Döllensradung und von dort auf der alten Heerstraße 1 in Richtung Küstrin. Ich selbst wartete mit meinem Panzer und Aufgesessenen noch bis gegen 0.30 Uhr auf eventuell zerstreute Truppenteile aus der Stadt. Aber es kam nichts, außer wenigen Zivilisten mit Handwagen. Aber unvergeßlich hat sich mir das Bild des Kasernenkomplexes eingeprägt: alles hell erleuchtet, zahllose Türen offenstehend, überall lagen Waffen, Panzerfäuste, Munition, Ausrüstungsgegenstände, Akten herum — ein Bild kopfloser Flucht, völliger Auflösung.
Als weiteres Warten sinnlos erschien, saßen wir auf, schnallten uns, so gut es ging, fest und rasselten los. In Gegend Merzdorf oder später, hielten uns wackere Volkssturmleute wohl für nahende Russen, empfingen uns mit Gewehrfeuer, wobei ein Aufgesessener wirklich einen Streifschuß erhielt. Eine weitere Beschämung erwartete uns Soldaten in Döllensradung, wo Hitlerjungs genau auf der Kreuzung eine 8,8-Flak in Feuerstellung gebracht hatten und tatendurstig auf das Anrücken sowjetischer Panzer warteten. Im Gegensatz dazu auf der Straße bis Vietz immer wieder Soldaten ohne geschlossene Formation, z.T. ohne ihre Waffen, die neben Ausrüstungsstücken zahlreich in den Chausseegräben lagen.
In Balz bei Vietz endlich halt und Auffangen all der Zerstreuten, da sich hier auch der General befand. Der Tag verging unter dem Bemühen, Ordnung unter die sich hier befindlichen Soldaten zu bringen und einen Überblick über Waffen und Kampfkraft zu gewinnen. Am Vormittag des 1.Februar Befehlsempfang für alle Offiziere beim General. Aber auch hier nur Fortsetzung des kläglichen Bildes der Vortage, des Umfangs der bereits vorhandenen Demoralisierung und des kläglichen Versagens der Führung. Ergebnis: Widerstand unmöglich; wir haben weder Waffen noch Munition, bleibt als einziges Rückzug bis hinter die Oder. Vereinzelte Proteste wurden mit einer Handbewegung weggewischt.
Aber der Tag verging — wohl auf Führerbefehl ohne Abmarsch, aber auch ohne Angriff des Feindes auf unsere ausgestellten Sicherungen, in deren Feuer allerdings nachts einige feindliche Spähtrupps ihr Leben lassen mußten.
Am nächsten Morgen sollten Sichtzeichen ausgelegt werden für die eigene Luftwaffe, die Munition und Treibstoff abwerfen wollte, aber dann zu niedrig flog, so daß manche Fallschirme sich nicht genug entfalteten und viele Behälter hart aufschlugen und explodierten. Dann plötzlich gegen Mittag von Norden her heftiges MG-Feuer, und bald darauf das furchtbare Bild, wie völlig aufgelöste eigene unbekannte Formationen in kopfloser Flucht, aus dem Waldgebiet auf unsere Häuser zulaufend, von diesen Garben niedergemäht wurden. Als ich mich zusammen mit eigenen Leuten mühte, sie zum Deckungnehmen zu veranlassen, traf mich selbst eine Kugel neben dem Kehlkopf, verletzte den Nervenstrang des rechten Arms, durchdrang die Lunge und blieb im Schulterblatt stekken. Ich wurde ins Rathaus Vietz gebracht, das als Lazarett bestimmt war, wo ich später — es war schon dunkel — aus meiner Ohnmacht erwachte, durch einen Ruf, ob hier noch jemand sei. Dann erinnere ich mich nur noch, daß ich in einem Auto durch zurückmarschierende Truppen, zwischen brennenden Häusern hindurch, abtransportiert wurde, über Warthe- und Oderbrücke hinweg ins Lazarett nach Seelow.
So war am 2. Februar die Neumark fast kampflos aufgegeben, nachdem Landsberg bereits seit dem 30. Januar ohne Kampfhandlungen in Feindeshand gefallen war.
„Eine Schlacht um Landsberg“, von der sogar in einem gedruckten Buch berichtet worden sein soll, hat es nicht gegeben. Aber ich bin auch nicht der Meinung, daß eine Verteidigung sinnvoll oder auch nur möglich gewesen wäre. Der General allerdings soll wegen der Preisgabe später von Hitlers Schergen hingerichtet worden sein, hat sich nach meinem Eindruck aber auch nicht gerade als besonders verantwortungsbewußt für seine Truppe erwiesen.
Das war das schmerzliche Ende der fast 700jährigen Geschichte Landsbergs als deutsche Stadt, da im Sommer 1945 alle Deutschen diese ihre Heimat verlassen mußten.
Erstellt am 29.09.2016 - Letzte Änderung am 29.09.2016.