Was da fleucht und kreucht!
von Katharina Textor
„Die Kladauken sind da!“ heißt es an einem herrlichen Frühsommermorgen in Landsberg. Die Larven sind am Wartheufer aus dem Wasser an Land gekrochen und die Eintags-Fliegen aus ihrer Hülle geschlüpft. Zu Tausenden und Abertausenden fliegen sie über der Uferregion. Die Schwärme verteilen sich über die Stadt und treiben ihr luftiges Spiel den ganzen Tag über im Sonnenschein Am Abend lassen sie sich ermattet an Bäumen und Hauswänden nieder. Da kann man diese zarten Tierchen mit ihren durchsichtigen Flügeln und den zwei langen, spitzen Fühlern am Hinterleib betrachten. Wenige überleben die kühle Nacht, sinken zu Boden, werden vom Winde verweht. Jedoch am nächsten Tag beginnen andere Schwärme das Spiel von neuem, etwa zwei Wochen lang. Das war charakteristisch für unsere Warthestadt und wird es wohl auch noch heute so sein.
Wer die Augen offen hielt, entdeckte ein reiches Kleintierleben in unserer Heimat. Bei Spaziergängen mit unserem Vater zeigte er uns, was da „fleucht und kreucht“. Über die Radewiesen sprangen die kleinen graubraunen Heuhüpfer, die wir zu fangen versuchten. Ringsum zirpten die Grillen, wovon wir nur einmal eine Maulwurfsgrille zu Gesicht bekamen. Sie hörten auf zu zirpen, wenn man in ihre Nähe kam, und ihre unauffällige Farbe schützte sie. Manchmal erwischten wir einen großen, grünen Heuschreck. Der konnte mit seinen kräftigen Sprungbeinen sich ganz tüchtig in der kleinen Kinderhand stemmen, bis wir ihn nach Betrachtung des großen Kopfes wieder freigaben. Am Wiesenschaumkraut und an den Stengeln der zahlreichen Margeriten klebte „Kuckucksspeichel“. Wenn man ihn vorsichtig mit einem Grashalm entfernte, saß am Stengel ein winziges, schwarzes Insekt, die Schaumzikade, die den Saft des Krautes zu diesen Schaumbällchen aufblies.
Wie freuten wir uns über die mannigfaltigen Schmetterlinge! Da gaukelten Zitronenfalter vorüber. Auf den kugeligen Blüten des Weideröschens das eigentlich Grasnelke hieß saßen die kleinen, roten Blutströpfchen Zierliche Bläulinge traten meist in Schwärmen von zehn bis zwanzig Faltern auf während ihre größeren Artgenossen einzeln von Blüte zu Blute taumelten. Tagpfauenaugen wippten mit ihren wunderhübschen Flügeln auf den Skabiosen, die auch der Große Fuchs gern besuchte. Ab und zu konnten wir auch einen herrlichen Schwalbenschwanz, den seltenen Admiral oder den dunklen Trauermantel bewundern Den Sommerflieder in den Gärten bevorzugten die braunbunten Perlmutterfalter, den sie scharenweise bevölkerten. Nur die Kohlweißlinge machten sich in den Gärten unbeliebt wegen ihrer Kohlraupen. Dabei hatten auch sie ihre Schönheit mit ihren sammetartigen, braunen, gelben und grünen Streifen.
In unseren Obstgärten und Wäldern lebten auch viele Arten von Nachtschmetterlingen. Wir nannten die größeren „Eulen“, die kleineren „Motten“. Ihre Raupen waren wenig gern gesehene Gäste, angefangen bei den Maden der Kleidermotte bis hin zur Forleule, die ganze Kiefernbestände vernichteten. Die vielen Menschen unsympatischen, teils behaarten Raupen der Nachtfalter zeichneten sich aber durch lebhafte, schöne Farben und Zeichnungen aus. Saßen wir abends mit einer Leuchte auf dem Balkon, flogen die Nachtfalter aufs Licht zu oder setzten sich in den Lichtkreis, so daß wir ihre wunderbar gemusterten Flügel bestaunen konnten.
Zur Maikäferzeit besaß wohl jede Familie ihr eigenes Fanggelände. Wir entdeckten ein solches am Grenzrain nördlich der Landesanstalt, wo junge Bäume gepflanzt waren. Sind es wohl Kirschbäume gewesen? Dort wimmelte es nur so von Maikäfern. Selbst in Jahren geringeren Auftretens des geliebtesten Käfers fanden wir hier Beute für die Maikäferkiste. Auf dem Wege dorthin zogen die leuchtend roten Baumwanzen (Feuerkäfer) unsere Aufmerksamkeit auf sich. Zu Hunderten krabbelten sie bisweilen an den Stämmen der alten Lindenbäume in der Friedeberger Chaussee. Wie verkleinerte Maikäfer tauchten später die Juni- und Julikäfer auf, die auch freudig begrüßt wurden, ebenso wie die kleinen Glücksbringer, die Marienkäferchen. Wir sahen sie gern auf unseren Blumentöpfen am Fenster, weil sie uns im Kampf gegen die Blattläuse unterstützten. Es gab sie in rot mit sieben schwarzen Punkten auf den Flügeln oder in schwarz mit gelben Punkten.
In unseren Wäldern fand sich eine reiche Käferwelt. Am häufigsten liefen wohl die dicken, behäbigen, blauschwarzen Mistkäfer über unseren Weg. Auch die flinken Laufkäfer kreuzten ihn. Viele von ihnen fanden wir in den Käfergräben, die der Förster um junge Schonungen hatte ziehen lassen, damit die frisch gepflanzten Laubbäumchen vor gefräßigen Käfern geschützt wurden Die stürzten beim eiligen Laufen über den Waldboden in die Gräben hinein und kamen die steilen Wände nicht wieder hoch. So wurden sie zur Beute der Vögel oder gelegentlich der Käfersammler. Wir fanden dort die grüngolden schimmernden Goldlaufkäfer, sowie ihre braunen Artgenossen, die Lederlaufkäfer, den etwas kleineren, schwärzlichen Aaskäfer und kleine Rüsselkäfer. Ach, und auch die großen Bockkäfer hatten sich in die Käfergräben verirrt! Sie zeichneten sich durch die stattlichen, geschwungenen Fühlhörner aus, die an die kräftigen, gebogenen Hörner von Ziegen oder vom Steinbock erinnerten. Der längste Bock, der Zimmermannsbock, trug fast körperlange, die in weitem Bogen von seinem schlanken, schlicht dunkelgrauen Körper abstanden. Etwas kleiner und gedrungener, mit nur halbkörperlangen Hörnern entdeckten wir den Weberbock. Er interessierte uns besonders, weil sein zoologischer Name auf lateinisch unser Name war, Lamia textor. - Da lief auch ein Maiwurm, ein großer, blauschwarzer Käfer mit verkrümmten Deckflügeln, die den Blick auf den langen, wurmähnlichen Hinterleib freigaben.
An morschen Bäumen oder Baumstümpfen suchten die Hirschkäfer ihre Nahrung. Sie bevorzugten Eichen. Wir entdeckten im Laufe der Jahre einmal ein Weibchen, ein anderes Mal ein stattliches Männchen mit seinem hirschähnlichen, prachtvollen Geweih. Während von anderen Käfern, die zahlreicher vorkamen, so mancher ins Ätherröhrchen für die Käfersammlung daheim gesteckt wurde, ließen wir die Hirschkäfer nach Betrachtung wieder laufen, um diese seltene Käferart zu schonen. Die zoologische Handlung hatte bereits unseren Käferkasten mit je einem Prachtexemplar versorgt.
Auch unsere Gewässer belebte eine reiche Kleintierwelt In der Klinge bei Loppow und in einem Fließ bei Berlinchen begegneten wir Blutegeln. Über die Flächen der Waldseen huschten die Wasserläufer, langbeinig wie die Schaken, beide für Menschen ungefährlich. Aber die Stechmücken konnten zur Plage werden und quälten die Spaziergänger gerade an den sandigen Ufern der Waldseen. Im Kanal lebte der Taumelkäfer oder Taumelmolch, sowie der fette Gelbrand. Davon burrte an einem Sommerabend ein kräftiger Bursche zum Fenster herein, stieß irgendwo an und blieb zappelnd auf seinem runden, gelbgeränderten Rücken auf dem Teppich liegen Da konnte man dann wunderschön seine Schwimmfüße betrachten, bis er wieder in die Freiheit entlassen wurde.
Kreuzottern und Ringelnattern lebten auch in Wassernähe, aber man fand sie selten. Dagegen ließen sich die weniger vorsichtigen Blindschleichen leicht fangen. Der Vater griff herzhaft zu und setzte sie in seinen Hut, damit wir Kinder sie kennenlernen und anfassen konnten. Was für schöne metallisch glänzende, feine Schuppen bedeckten ihren Schlangenleib! Auch die verschiedensten Arten von Fröschen, in braun, in grün oder gestreift, wurden unsere „Beute auf Zeit“. Ihre Vorstufen, die fischähnlichen Kaulquappen, fischten wir mit Marmeladengläsern sowohl im Maserpfuhl als auch in der Warthe. Dies letzte Fanggebiet kam aber nur in Frage, wenn bei der Frühjahrsüberschwemmung die Ablage am Wall überflutet war und wir ungefährdet im seichten Wasser umherwaten konnten. Es wurde immer ein besonderes Erlebnis, wenn wir eine Kaulquappe einfingen, bei der sich bereits kleine Vorderfüßchen gebildet hatten.
Im Keller hatte man eine Kröte entdeckt ...!!! Der Vater wurde gebeten, sie fortzuschaffen. Wir Kinder gingen mit. Da saß die dicke Kröte auf den Kartoffeln, wo sie wohl Jagd auf Spinnen, Asseln oder den langen Tausendfüßlern machte. Sie war wirklich nicht schön anzusehen mit ihrem narbigen, wabbeligen Körper. Böse - oder ängstlich? - glotzte sie uns an. Vater nahm sie auf und sagte zu uns: „Seht mal, was für schöne, goldene Augen sie hat!“ Behutsam wurde sie in den Garten des Hauswirtes getragen und in's schattige Gebüsch gesetzt. So lernten wir, uns nicht vor Tieren zu fürchten oder zu ekeln und in jedem Tier ein Geschöpf Gottes zu sehen, das jedes seine Eigenart und Schönheit besitzt.
Gern liefen wir von Gurkow zur Waldschänke an der Zanze. Wenn man über den sonnigen Feldweg bis an den Waldrand kam, traf man auf eine Stelle, wo der weiße Sand unbewachsen zutage lag. Kleine Trichter entdeckten wir darin Unser Vater grub so einen Trichter mit der Hand aus, entfernte vorsichtig den Sand, bis auf seiner Hand ein kleines, graues Etwas lag: der Ameisenlöwe Er versuchte, sich rückwärts bewegend zu verstecken oder zu entfliehen. Er war ja kein angriffslustiges Raubtier wie sein großer Namensbruder, sondern leichtverletzlich mit seinem ungeschützten, weichen Körperchen. Daher mußte er zur List greifen, um sich ernähren zu können. Wieder auf den Sand gesetzt, bohrte er sich mit dem Hinterleib gleich wieder in den losen Sand ein. Dadurch entstand der kleine Trichter. In diesen rutschte ab und zu eine emsig daherlaufende Ameise. Dann packte der kleine Räuber mit seinen kurzen Zangen zu. Seine Beute fand keine Fluchtmöglichkeit mehr. Ganz in der Nähe lag der hohe Ameisenhaufen. Legte man locker ein Taschentuch darauf, so wimmelte es sofort von zahlreichen Ameisen auf dem Fremdkörper. Es waren die kräftigen, braunen Waldameisen. Zur Abwehr von Gefahr verspritzten sie ihre Säure auf dem Tuche. Schnell nahmen wir das Taschentuch wieder auf, schüttelten die Krabbeltiere ab und schnupperten die Ameisensäure. Das sollte gesund sein!!
Nicht weit von dem Ameisenhaufen lag am Waldrand ein großer Feldstein. Darauf sonnte sich eine zierliche Eidechse. Bei unserem vorsichtigen Herantreten verschwand sie blitzschnell im schützenden Unterholz. Schade!
So lernten wir schon als Kinder viele Kleintiere kennen und freuten uns auch als Erwachsene immer wieder daran. Ihre Schönheit oder Eigenart hat uns immer wieder gefesselt. Wir schonten sie nach Möglichkeit und dachten an die reizende Fabel von Hey vom „Knaben am Vogelnest“. Der anfangs geängstigte Vogel zwitscherte zum Schluß dem Knaben zu: „Hab' Dank, daß du ihnen kein Leid getan!“
Erstellt am 29.09.2016 - Letzte Änderung am 29.09.2016.