Katharina Textor Flucht April/Mai 45 aus Landsberg - Landsberger Heimatblatt 1985 Folge 3 S.5
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Der Weg in den sicheren Westen - voller Mühsal, Ängste und Gefahren!
von Katharina Textor

Die letzten Kriegswochen waren für viele, die sie erlebten, schicksalhaft und sind zum Teil mit schlimmen Erinnerungen verbunden, die sich für die Betreffenden unauslöschlich einprägten. Nachstehend ein Erlebnisbericht:

Es war im April 1945. Seit Ende Januar hatten die Russen das Gebiet östlich der Oder besetzt, auch unsere Heimatstadt Landsberg an der Warthe. Nach den ersten Wochen des Brandschatzens und des Ausgeliefertseins schuf man eine gewisse Ordnung. Ein Pole wurde zum Bürgermeister bestimmt und die Bevölkerung — etwa noch ein Drittel der Bewohner — wurde zu Aufräumungsarbeiten oder zum Schützengrabenbau auf der Straße abgefangen.

Dann wurden Anfang April Lebensmittelkarten ausgegeben. Wer unter 50 Jahre alt war, bekam nichts, wenn er nicht arbeitete. So ließen wir — drei Freundinnen — 45, 49 und 50 Jahre alt — uns zur Landarbeit einsetzen. Etwa 30 Personen, meist Frauen, Kinder, und zwei alte Männer, fuhren in das reiche Bauerndorf Stolberg westlich von Landsbergauf der nördlichen Höhe des Warthebruches gelegen. Wir mußten Kartoffeln legen. Ältere russische Soldaten mit hängenden Schnauzbärten, wohl Kirkisen, zogen mit Pferden die Ackerfurchen. Aus der Militärküche wurden wir leidlich versorgt und bewohnten zwei kleine Bauernhäuser, die fast heil geblieben waren. Die Bewohner des Dorfes waren geflüchtet. Oft hörten wir von der nahen Oder her Schlachtenlärm, Geschützdonner, die berüchtigten Stalinorgeln. Am 20. April, das war Hitlers Geburtstag, überflogen uns mehrere Flugzeuggeschwader. Waren es deutsche? Zu Ehren des „Führers", waren es feindliche? Wir wußten es nicht. Auch sonst erhielten wir keine Nachrichten, wie es um Deutschland stand. Ab und zu berichteten Russen mit stolzem Grinsen: „Wirr vorr Berrlin — zehn Kilometer vorr Berrlinü“

Ende April hieß es plötzlich: „Arbeit kapuht!“ Die ackernde Truppe war zur Besetzung Berlins abgezogen. Nur der aus der Ukraine stammende deutschsprechende Kommandant des Arbeitstrupps war geblieben. Als er am folgenden Tage sich nicht mehr um uns kümmerte, beschlossen wir, auch fortzugehen. Einige wollten nach Landsberg zurück, andere in umliegende Dörfer oder über die Oder nach Berlin. Eine Berlinerin unter uns, Mutter mit zwei Kindern, ermunterte uns: „Was, ihr wollt zu den Polen zurück? Kommt mit! Wir haben in Berlin fünf Häuser, eines davon wird doch wohl stehengeblieben sein!“

So brachen wir als kleine Gruppe von sieben Personen auf und zogen abseits der großen Heerstraße über Zorndorf der Oder zu, wurden aber in Zorndorf vom „Kommandanten“ festgehalten. „Wohin?“ — „Nach Küstrin!“ — „Nix Küstrin! Nix Brücke! Verboten!“ Er wies uns ein Bauernhaus an; gab uns in seiner Kommandantur ein Säckchen Mehl! Sein Zimmer war mit Frühlingsblumen und roten Fähnchen herausgeputzt.
Es war der 1. Mai!

Etwa eine Woche sah er täglich nach uns. Im Dorf lebte nur noch ein altes Ehepaar, das wir entdeckten, als wir in den leeren Häusern nach Eßbarem Umschau hielten. Als der Kommandant sich nicht mehr bei uns sehen ließ, brachen wir am 7. Mai erneut auf. Nach 10km erreichten wir die Oder bei Küstrin. Eine neue Holzbrücke überspannte den Strom — kein Posten, keine Bewachung! Vielleicht waren wir die ersten Zivilisten, die ungehindert hinübergelangten.

Küstrin-Neustadt war ein einziger Trümmerhaufen! Wir wateten durch Häuserschutt. Nur ein Haus war noch bis zum 1. Stock erhalten. Es trug das Schild eines Augenarztes, der aus Landsberg stammte und uns bekannt war. In Küstrin-Kietz sah es nicht ganz so zerstört aus. Wir durchzogen das Oderbruch und fanden für die Nacht abseits der Straße, die von russischem Militär stark befahren war, ein fast heiles Haus unterhalb des westlichen Höhenrandes. Wir fühlten uns etwas erleichtert, weil wir dem Bereich der polnischen Besatzung entronnen waren, fürchteten aber immer die russische Soldateska nach mehrfachen bösen Erfahrungen.

Da brach in der Nacht plötzlich Geschützdonner los; ziemlich nahe!
Entsetzt sahen wir nach draußen. An der ganzen Oder entlang loderten Brände, ein Höllenschauspiel, begleitet von Kanonendonner! Wir erschraken fast zu Tode! Waren wir zwischen zwei Fronten geraten? Vor uns kämpften sie um Berlin — und nun hinter uns diese Feuerfront! Bedrückt verkrochen wir uns im Keller des Hauses.

Am nächsten Morgen stiegen wir am Höhenrand auf und kamen in das Städtchen Seelow. Da erblickten wir am Tor eines größeren Hauses ein Plakat: „8. Mai — bedingungslose Kapitulation der Deutschen Wehrmacht!“ Da lief es mir eiskalt über den Rücken! Bedingungslose Kapitulation!

Der Geschützdonner in der Nacht und die „brennende Oder“ waren also der Freudentaumel des siegreichen, unerbittlichen Feindes gewesen.

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Erstellt am 10.10.2016 - Letzte Änderung am 10.10.2016.