Die Kriegsjahre in Landsberg aus der Sicht eines Schulmädchens
Die Kriegszeit erlebte ich (Jahrgang 1930) als junges Mädchen in Landsberg. Aus dieser Sicht möchte ich die Auswirkungen des Krieges auf unsere Familie und das Ladengeschäft des Vaters Oswald Maßlich in der Wollstraße 20 berichten. Vielen Familien wird es ähnlich ergangen sein, und so sind die Ereignisse und mein Eindruck davon als Zeitgeschichte im kleinstädtischen Lebensraum zu verstehen.
Wir schrieben das Jahr 1938:
das Sudetenland war dem
„Großdeutschen Reich“ einverleibt
worden. Im „Generalanzeiger
für die gesamte Neumark“
erging ein Aufruf, ein
Kind aus dem Sudentenland
für 4 Wochen Ferienaufenthalt
in den Kreis der Familie aufzunehmen.
Unser Vater, aufgewachsen
in der Oberlausitz
unmittelbar an der seit 1918
deutsch-tschechischen Grenze,
wusste um die Behandlung
der im Sudentenland ansässigen
deutschen Menschen
durch die Tschechen. Darum
meldete er sich. Es rührte sich
nichts, und wir dachten schon
gar nicht mehr daran.
Im Sommer 1939 kam jedoch
ein Bescheid: kein Kind aus
dem Sudetenland sondern
eines aus Berlin! Die Zeit, um
das abzusagen, war zu kurz.
So kam ein sechsjähriges
Mädchen, das wir am Bahnhof
abholen mussten. Das
Mädchen war noch keine zwei
Wochen bei uns, da wurden
wir wieder benachrichtigt, dass
der Transport zurück nach
Berlin geht. Landsberg sei zu
nah an der polnischen Grenze.
Das bestärkte die Gerüchte,
dass es Krieg geben könnte.
Auch wurde im Generalanzeiger
bekannt gemacht, wir
Landsberger sollten ein Notgepäck
vorbereiten falls eine
plötzliche Evakuierung der
Stadt nötig werden sollte. Unsere
Mutter aber war heilfroh,
das Mädchen los zu sein, weil
es sich als total verzogener
„Fratz“ erwiesen hatte, wie
meine aus Bayern stammende
Mutter sich äußerte.
Am 1. September 1939 waren
wir wie immer zum Frühstück
auf, denn die Schule neben
der Katholischen Kirche begann
um 8 Uhr. Um 7 Uhr
kommt die Nachricht im Radio,
dass der Krieg gegen Polen
begonnen habe. Und unser
Vater sagte wortwörtlich“ „Jetzt
geht die „Scheiße“ schon wieder
los!“ Er war im 1. Weltkrieg
aus dem Wehrdienst heraus
vom ersten Tag an dabei gewesen.
In der Schlacht an der
Somme war er in Kriegsgefangenschaft
geraten und erst
1921 heimgekehrt.
Ich machte mich wie üblich
auf den Weg zur Schule, die
Wollstraße entlang bis zur
Einmündung in die Richtstraße
bei Bahr und Clemens/Selkes.
Da sah ich in endloser Kolonne
Wehrmachtsfahrzeuge in
schneller Fahrt Richtung Osten.
Panzer waren aber keine
dabei, die werden wohl auf
der Ostbahn befördert worden
sein. Bis zum Paradeplatz kam
ich noch. Ich hätte die Straße
überqueren müssen, um
zur Katholischen Volksschule
in der Zechower Straße zu
gelangen. Es war aber nicht
möglich, auf die andere Straßenseite
zu kommen, denn
es gab keine Lücke, und die
Kolonne hatte ein zu großes
Tempo drauf. Erst gegen 10
Uhr gab es eine Möglichkeit
und von beiden Bürgersteigen strömten die Wartenden zur jeweils anderen Seite. Während
der Wartezeit hatte ich so
viel Kriegsgerät gesehen wie
später den ganzen Krieg über
nicht wieder auf einmal.
Wenige Tage später erzählten
die Kinder, die auf dem Schulweg
über die Warthebrücke
mussten, dass tote Fische
die Warthe flussabwärts geschwemmt
würden. Das wollte
ich sehen. Am Nachmittag ging
ich zum Fluss. Am südlichen
Ufer konnte man bequem bis
ans Wasser gehen. Der Fluss
war über die ganze Breite mit
einer schillernden Ölschicht
bedeckt, und in dieser Brühe
trieben Fisch an Fisch mit dem
Bauch nach oben verendet
flussabwärts. Unmittelbar am
Ufer war ein schmaler Streifen
ölfrei und dort streckten kleine
Aale die Mäuler aus dem Wasser,
Krebse und einige Fische,
dicht aneinander das ganze
Ufer entlang. Es hieß, die
Polen hätten in Posen an der
Warthe stehende Tanks geöffnet,
um Öl und Benzin nicht
in die Hände der deutschen
Soldaten fallen zu lassen.
Es war das erste Opfer des Krieges seitens unserer Familie. Unser Vater hatte 1936 seine Eisenwarenhandlung in der Wollstraße 20 eröffnet (vgl. HB 50, S. 13-17). Um seine Kunden in den Dörfern zu erreichen, erwarb er 1937 den Führerschein bei der Autofirma Weichmann in der Meydamstraße und bestellte auch gleich einen Hanomag Pkw. Wenn es klappte, fuhr ich gerne mit und verschwand beim Kunden immer sehr schnell im Stall bei den Tieren oder auch im Garten. Seit Kriegsbeginn bekam mein Vater kein Benzin mehr zugewiesen, weil sein Geschäft kein kriegswichtiger Betrieb war. So stand das Auto abgemeldet in einer Garage in der Gerberstraße. 1943 forderte eine militärische Stelle, den Pkw an die Wehrmacht abzugeben. Vater sollte ihn persönlich nach Frankfurt/Oder bringen. Dafür erhielt er etliche Tage Sonderurlaub. Das Auto wurde auf 800 RM geschätzt. Der Betrag ist jedoch niemals ausbezahlt worden.
Einberufungen und Ladengeschäft
Unser Vater hatte für seinen Eisenwarenhandel zwei junge Verkäufer angestellt. Sie wurden 1939 sofort zum Militär eingezogen. Auch unser Vater bekam in den ersten Tagen seinen Einberufungsbescheid. Sein Bruder, Onkel Erich Maßlich, war gut eingearbeitet und musste nun den Laden alleine bewältigen unter Mithilfe unserer Mutter. Der Vater war im Ort Birnbaum hinter der polnischen Grenze stationiert. Was er dort erfuhr, fasste er für uns zusammen: „Wenn wir das noch mal büßen müssen, was die Deutschen in Polen so alles anstellen, dann ergeht es uns noch dreckig!“ Nach Ostern 1940 wurde der Vater wieder entlassen und kehrte ins Geschäft zurück. Nach Beginn des Frankreich- Feldzuges wurde er wieder für einige Monate geholt wegen seiner Französisch-Kenntnisse für das Gefangenenlager bei Schwiebus (Tiborlager).
Die großen Verluste in Russland 1942/43 benötigten nun jeden Mann. Mein Vater wurde in Metz stationiert, der Onkel Erich nach Narvik in Norwegen. Meine Mutter verstand zu wenig von dem Geschäft, um es alleine weiterzuführen. Es müsste also geschlossen werden. Das Warenlager, so schrieb die Behörde, solle an ein noch bestehendes Eisenwarengeschäft veräußert werden. Für die Abwicklung wurde ein Sonderurlaub bewilligt. Herr Deutschländer vom Geschäft Eichenberg/ Nachfolger war sofort bereit, die gesamte Ware zu übernehmen. Beide rechneten damit, dass der Krieg nicht mehr allzu lange dauern könne, nachdem es in Russland immer weiter zurück ging mit der Frontlinie. Sie beschlossen deshalb einen (merkwürdigen) Vertrag: Herr Deutschländer übernimmt das Warenlager verpackt und lagert es bis Kriegsende ein. Umgekehrt bewahrt unser Vater den erhaltenen Kaufpreis auf einem Sonderkonto. Nach Kriegsende soll dann die beiderseitige Rückgabe erfolgen. Welch ungetrübte Vorstellungen vom Kriegsende! Wie Geschichte dann endete, wissen wir ja!!
Das Ehepaar Harnisch aus Berlin
Nur noch die leeren Regale
standen im Ladenraum, als
eines Tages eine Dame bei
uns auftauchte und sich nach
den geschlossenen Geschäftsräumen
erkundigte. Sie
wäre aus Berlin und möchte
ihre Möbel nach Landsberg
bringen. Das machten viele
Berliner, die in Landsberg die
leeren Geschäfte suchten, weil
die Inhaber einberufen worden
waren. Die Frau und meine
Mutter wurden sich rasch handelseinig.
Räume waren mehr
als genug vorhanden und Frau
Harnisch war begeistert.
Und dann kam nicht ein Möbelwagen,
sondern mehrere
standen vor dem Haus.
Sämtliches Mobiliar der
7-Zimmer-Wohnung in Berlin
traf hier ein, um es vor den
Bombenangriffen in Sicherheit zu bringen. Große Perserteppiche, kostbare Möbel, Bilder
in sämtlichen Größen zu hauf
und eine weiße Anbauküche.
Ein mehr als begütertes
Ehepaar, aber beide waren
sehr nette und umgängliche
Leute. Wir kamen blendend
mit ihnen aus. Sie erzählte,
dass sie früher Drahthaarterrier
gezüchtet habe und einer
davon sei Weltmeister in Paris
geworden. Von ihm stand eine
Skulptur aus schwarzem Marmor
im Wohnzimmer.
Im Januar 1945 hatten die
Harnisch einen Spediteur
beauftragt, die kostbarsten
Sachen in einem Möbelwagen
zu verstauen und per Bahn
nach Berlin zu senden. Der
stand schon bald zwei Wochen
verladen auf einem flachen
Güterwagen im Güterbahnhof
und wurde nicht mehr abgefertigt.
Die restlichen Sachen
wollten die Harnisch auch
noch holen, aber die Russen
waren schneller. So hatten sie
sämtliche Möbel und Wertgegenstände
verloren.
Bei uns im Haus wohnten zwei
Brüder, beide verheiratet. Im
Vorderhaus wohnte Erich Lube
mit Tochter Helga. Er war in
Landsberg Justizangestellter.
Im Rückgebäude wohnte Otto
Lube mit Sohn Peter, Monteur
im Elektrizitätswerk. Er war
Soldat.
Beim Fliegeralarm traf man
im Luftschutzkeller zusammen,
und da wurde manches
erzählt. Frau Lube aus dem
Rückgebäude hatte schon
öfters berichtet, dass ihre
Mutter bei der Geburt ihres
zweiten Kindes gestorben
sei und sie sei dieses zweite
Kind. Sie will nach dem Peter
auf keinen Fall ein zweites
Kind, weil es ihr dann genau
so erginge wie ihrer Mutter:
sie würde ebenfalls sterben.
Alle wollten ihr das ausreden,
aber es half nichts. Ihr Mann
kam auf Urlaub und sie wurde
schwanger. Steif und fest
behauptete sie: „Ihr werdet es
sehen, ich werde sterben beim
zweiten Kind“. Die ganze Zeit
ging das so. Sie war bereits im
8. Monat im Sommer 1944, als
sie ins Krankenhaus eingeliefert
wurde, weil sie Schmerzen
im Unterleib hatte. Die Ärzte
vermuteten Wehen, und eine
Frühgeburt sollte so lange
wie möglich hinausgezögert
werden. Als die Schmerzen
schlimmer wurden, entschloss
man sich zum Kaiserschnitt.
Dabei stellte sich heraus, dass
der Blinddarm durchgebrochen
war. Es war zu spät, das Baby Gisela war zwar da, aber die Frau starb!
Als sie ins Krankenhaus kam,
nahm ihre Schwägerin den
zweijährigen Peter zu sich, der
nun für dauernd bei ihr blieb.
Das Baby kam als Frühgeburt
ins Kinderkrankenhaus
Bethesda. Der Vater kam auf
einen Sonderurlaub. „Er will
das Kind nicht sehen“, sagte
seine Schwägerin. Auch später
nicht, obgleich es nicht den
Tod seiner Frau verursacht
hatte. Er kehrte ins Feld zu
seiner Einheit zurück, und
wir wissen sein Schicksal
nicht. Erich Lube erreichte den
Westen, jedoch starb er schon
mit 58 Jahren in Kirchmöser
an der Havel. Von beiden und
dem dritten Kind haben wir
keine Nachricht.
Wir waren schon in Ingolstadt, der Krieg war vorbei. Wir sitzen im Sommer 1945 beim Abendessen, im Radio sind gerade Nachrichten. Wie schon öfters wird über die Vorkommnisse in den KZ‘s berichtet, als der Vater plötzlich sagt, er habe gewusst, was in den KZ‘s alles passiert ist. Ich konnte das nicht fassen! Und fragte ihn, woher er das denn gewusst habe. Und dann erzählte er:
Ich begann am 1. August 1926 bei der Firma Wilhelm Hoch in der Wollstraße als Verkäufer zu arbeiten. Ich wohnte möbliert bei dem Schneidermeister Rother in der Schönhofstraße, zwei Jahre bis zur Heirat. Zum Mittag und für den Abend fand ich das Gasthaus beim Jordan in der Schönhofstraße / Ecke Stadtpark. Es wurde mein Stammlokal in der fremden Stadt, in der ich mich aber rasch einlebte. Ich lernte eine Menge junger Leute kennen, und da wurde auch fleißig politisiert. Es entwickelten sich auch Freundschaften über die Parteianschauungen hinweg. So auch mit einem aus der kommunistischen Partei. Als ich dann das Geschäft in der Wollstraße hatte und es muss kurz vor dem Krieg gewesen sein, als dieser Mann zu mir in den Laden kam. Ich habe ihn sofort erkannt, obwohl ich ihn über Jahre schon nicht mehr gesehen hatte. Wir begrüßten uns, und ich fragte ihn, wo er denn all die Jahre abgeblieben sei. Da ist der dann mit der Sprache rausgerückt und hat mir erzählt, dass er als Kommunist verhaftet worden sei und im KZ Oranienburg für Jahre eingesperrt worden sei. Nun sei er entlassen worden. Dann erzählte er, was er im KZ so alles gesehen, miterlebt und gehört hatte. Er kannte ja meine Abneigung gegen die Nazis. Gleichzeitig schloss er seine Ausführungen mit dem Hinweis, ja nichts von dem weiter zu erzählen, was ich von ihm gehört hätte. Sonst kämen wir beide ins KZ und nie mehr wieder raus. Daran habe ich mich strikt gehalten und nicht einmal meiner Frau habe ich davon etwas gesagt.
So um 1941 herum wurde in der Schule der Religionsunterricht abgeschafft. Darum soll sich gefälligst der Pfarrer kümmern und im Pfarrsaal selbst abhalten. So marschierte ich jeden Dienstagnachmittag zum katholischen Pfarrhaus neben der Kirche in der Zechower Straße. Der Unterricht war freiwillig, aber der noch junge Pfarrer Paul Dubianski hatte eine Spielstunde angefügt, in der es immer hoch herging. Bis kurz vor Weihnachten 1943: der Pfarrer wurde verhaftet und ins KZ Dachau gebracht. Irgendwer hatte ihn angezeigt. Der Pfarrer hat das KZ überlebt und wurde Ende April 1945 von den Amerikanern befreit. Nach Landsberg zurückgekehrt, durfte er nicht tätig werden und wurde von den Polen in den Westen abgeschoben (vgl. Landsberg Bd. 2, S. 88).
Ich denke, es war 1943, als
jemand in unserer Klasse der
Mädchen-Mittelschule in der
Theaterstraße die Idee hatte,
eine Aufführung zu veranstalten
für die verwundeten Soldaten.
Ausgesucht wurde das ELDORADO
in der Zimmerstraße
nahe dem Bahnhof Brückenvorstadt,
das als Lazarett
diente. Wichtig: es war eine
kleine Bühne vorhanden. Früher
wird dort die Kapelle zum
Tanz aufgespielt haben. Was
spielen wir nun? Wir waren
uns rasch einig: wir wollten einen
Tag „Rundfunkprogramm“
nachspielen, d.h. einen Tag
„Deutschlandsender“ von
frühmorgens bis spätabends.
Nachrichten, Unterhaltungssendung,
Wunschkonzert
usw., die Einzelheiten weiß ich
nicht mehr. Ich wollte kein Akteur
sei, aber Mitschülerinnen
machte es gar nichts aus, auf
der Bühne Zarah Leander oder
Marika Rökk nachzuahmen.
Dazu wurden Kostüme benötigt,
die als altmodische Kleidungsstücke
bei den Müttern
und Großmüttern requiriert
wurden. Wir übten die einzelnen
Sendungen ein, und dann
konnte eines Nachmittags die
Aufführung steigen. Die Soldaten
haben fleißig geklatscht,
es muss ihnen also gefallen
haben.
Anschließend gab es für die
Verwundeten noch Kaffee
und Kuchen. Der Vater unserer
Mitschülerin Rita Modista
hatte eine Bäckerei in
der Wasserstraße. Sie fragte
erst einmal an, ob er unseren
Einfall mit dem Kuchen unterstützen
könnte und wollte,
denn Lebensmittelmarken
hatten die Soldaten ja nicht,
und wir würden von unseren
Müttern kaum so viele Marken
bekommen, um blechweise
Kuchen kaufen zu können,
und mit der Bezahlung war es
nicht anders. Es müsste auf
eine größere Kuchenspende
hinauslaufen - der Herr Modista
stimmte zu! Der Kaffee
(natürlich kein Bohnenkaffee)
wurde von der Küche des
Lazaretts zur Verfügung gestellt
und ebenso das Geschirr.
So deckten wir die Tische und
richteten alles her und bedienten
die Soldaten mit Kaffee
und Kuchen. Es gab verschiedene
Kuchensorten – der Bäckermeister
Herr Modista hat
sich nicht lumpen lassen. Wir
hatten an diesem Tag unseren
Spaß beim Theaterspiel und
Kaffeeklatsch. Und ich denke:
auch die Soldaten.
Mangels Arbeitskräften wurde 1944 unsere Mutter zur Arbeit verpflichtet. Das geschah mit allen Frauen, die keine kleinen Kinder zu versorgen hatten. Unsere Mutter kam in die Großküche von Gerbitz in der Fernemühlenstraße. Für den Küchendienst vormittags bekam sie das Essen zum Mittag für sich und die Kinder mit nach Hause. In der Küche waren schon lange polnische Fremdarbeiterinnen beschäftigt, die ihre Arbeit zusammen mit den deutschen Frauen erledigten. Während einer solchen Unterhaltung sagte eine Polin: „Wir schlafen alle einmal in euren Betten!“ Da folgte ein großes Gelächter, und der Ausspruch wurde als „Witz“ von den Deutschen aufgefasst. Demnach müssen die Polinnen damals schon gewusst haben, dass das deutsche Land östlich der Oder nach dem Krieg an Polen fallen sollte. Aber niemand kam auf den Gedanken, die Polin nach dem tieferen Sinn ihres Satzes zu fragen.
Schon in der Volksschule (bis
Ostern 1940) konnten wir die
bebilderte Zeitschrift „Hilf mit“
abonnieren. Darin erfuhr man
viel über die deutsche Jugend
und speziell über die Hitlerjugend.
Als ich im Februar 1940
zehn Jahre alt wurde, war
es zur Pflicht geworden, bei
der Hitlerjugend (HJ) dabei
zu sein. Gepasst hat mir das
aber gar nicht. Denn zwei
Nachmittage zum „Dienst“
gehen, gefiel mir überhaupt
nicht. Aber letztendlich blieb
mir ja nichts anderes übrig, ich
musste mitmachen. Ansonsten bestand die Gefahr, von der Polizei abgeholt zu werden.
In der Hitlerjugend waren
die Altersjahrgänge 10 bis
14 gegliedert, in Pimpfe und
Jungmädchen. Die Stadt war
in Ortsgruppen unterteilt. Ich
gehörte zur Ortsgruppenleiterin
„Mitte“, die die vier Jahrgänge
zu betreuen hatte. Für
die ganze Stadt war die Zentrale
mit dem „Bannführer“ zuständig.
Der Jahrgang - stets
gerechnet vom 20. April – hieß
bei den Mädchen „Schaft“ mit
jeweils einer Schaftführerin. Er
umfasste etwa 20 Mädchen.
Die Gruppe hatte ein „Fähnlein“,
das war ein an einem
Speer aus Holz befestigter
Wimpel. Er wurde bei offiziellen
Treffen vorneweg vor
jeder Gruppe getragen.
Am 20. April jeden Jahres wurde
nicht nur Hitlers Geburtstag
feierlichst begangen, sondern
beim Aufmarsch sämtlicher
Pimpfe und Jungmädchen der
Stadt die „Neuen“ Zehnjährigen
in die HJ aufgenommen,
und die vierzehnjährigen
Mädchen rückten in den „Bund
deutscher Mädchen“ (BDM)
vor. Auf der großen Wiese im
Zanziner Park wurden Fahnen
gehisst. Wir mussten uns im
großen Karree darum aufstellen.
Deutschland-Lied, Horst
Wessel-Lied,
Hitlerjugend-Lied wurden
gesungen, begleitet vom
Spielmannszug der Pimpfe.
Der Bannführer und die Parteibonzen
hielten schwungvolle
Reden. Sowas von langweilig
und anstrengend! Diese Zeremonie
zog sich ewig hin,
die ganze Zeit müsste man
„stramm stehen“. Beim Singen
hatten wir den rechten
Arm zum Hitlergruß ausgestreckt
hoch zu halten. Ich
versuchte immer, in die hinteren
Reihen zu kommen,
weil man viel lässiger stehen
und den ausgestreckten Arm
auch mal dem Mädchen vor
einem auf die Schulter legen
konnte. In der ersten Reihe
hieß es, gerade zu stehen mit
geschlossenen Beinen, den
rechten Arm ausgestreckt und
ja nicht abgewinkelt, und den
linken Arm an die Rocknaht
und kein bisschen bewegen.
Das konnte eine Viertelstunde
dauern, und noch heute denke
ich mit Grausen an diese
Tortur.
Nun zur Uniform der Jungmädchen.
Wir hatten eine weiße,
kurzärmelige Bluse und einen
dunkelblauen Faltenrock.
Dessen Bund wurde der Bluse
aufgeknöpft. Dazu gab es
weiße Söckchen bzw. Kniestrümpfe.
Dann gehörte noch
eine Strickjacke im „Berchtesgadener
Trachtenstil“ zur
Uniform, und eine Jacke, die
„Kletterweste“ genannt wurde.
Sie war etwa senffarben
und der Stoff leicht samtartig.
Ab dem zweiten Jahr durften
wir ein schwarzes Halstuch
tragen, das mit einem geflochtenen
Lederknoten zusammengehalten
wurde.
Die Uniform durften wir in der
Schule und auch privat tragen.
Obwohl für die Uniform
keine Punkte der Kleiderkarte
(offiziell Spinnstoffkarte genannt)
verlangt wurden, trugen
viele Kinder keine Uniform
oder nur Teile davon, denn die
Versorgung ließ im Kriegsverlauf
zu wünschen übrig. Die
Geschäfte hatten vieles nicht
vorrätig und wurden äußerst
schleppend versorgt.
Zum „Dienst“ jeden Mittwoch
und Samstag von 15 bis 17
Uhr trafen wir uns im Stadtteil,
mussten uns aufstellen und als
„Abteilung marsch“ ging es in
die nahegelegene Schule. Dort
hatte jeder Jahrgang („Schaft“)
sein Klassenzimmer. Bei
schlechtem Wetter blieben wir
hier und die Schaftführerin bestimmte
die Spiele und Lieder.
Beliebt war vor Weihnachten
das Basteln von Geschenken
für arme Kinder. Bei gutem
Wetter spielten wir Brennball
und Völkerball im Freien oder
übten auf dem Sportplatz Laufen,
Weitsprung und Weitwurf.
Spiele und Sport gefielen mir,
aber besonders gern hatte ich
„Auf Fahrt gehen“. Das war
entweder eine Wanderung
am Nachmittag in einen am
Stadtrand gelegenen Park für
Geländespiele, die dann bis
in den Abend gingen. Oder
es war ein Ganztagesausflug
am Sonntag und für die
Gruppe „Stadt-Mitte“ der 10
bis 14jährigen, so dass über
40 Mädchen bei freiwilliger
Teilnahme zusammenkamen.
Diese Ausflüge ließ ich mir nie
entgehen.
An einem Waldrand oder auf
einer Lichtung ließen wir uns
nieder für eine Vesper, viele
abwechslungsreiche Spiele
und Singen. War ein See in
der Nähe, wurde auch gebadet.
Badesachen und Turnzeug
hatten wir in unserem
Rucksack dabei neben der
Verpflegung für einen Tag,
denn eingekehrt wurde nicht!
Die Kehrseite der HJ waren
das „Du musst zum Dienst“,
die Apelle sowie die schrecklichen
sogenannten „Heimabende“.
Diese fanden nachmittags
statt anstelle von Sport
und Spielen. Da wurden wir
über den Nationalsozialismus
unterrichtet und die Lebensläufe
der Parteigrößen wurden
uns nahegebracht. Ich fand
das entsetzlich langweilig.
Und noch eine andere, lästige
Pflicht gab es: Sammeln für
das „Winterhilfswerk“. Da
mussten wir Kinder aus der
HJ mit Sammelbüchsen auf
den Straßen die Passanten
um Spenden anbetteln. Immer
zu zweit. Die eine mit der
Sammelbüchse sprach mit Geklapper
die Vorübergehenden
an. Die andere verkaufte
Plaketten zum Anstecken für
20 Pfennige. Es mussten bei
einer Sammelaktion nicht alle
Kinder mitmachen. Ich war
vielleicht 3- bis 4-mal dabei
und genierte mich immer, weil
ich mir wie ein Bettlerkind
vorkam.
Nun die umgekehrte Situation.
Mädchen, die in Uniform im
Gleichschritt singend durch
die Stadt marschierten: das
akzeptierten viele Ältere nicht
und sie blickten missbilligend
auf uns. Wir aber waren von
unseren Führerinnen darauf
schon vorbereitet worden und
recht provozierend gingen wir
an den Leuten vorbei so nach
dem Motto: Ihr seid ja von gestern
– uns gehört die Welt!
Am 20. April 1944 stand
der Wechsel zum BDM an.
Das war unvermeidbar. Jedoch
wollte ich mich nicht
zur Schaftführerin ausbilden
lassen. Monatelang wurde ich
bedrängt und auch von meinen
Mitschülerinnen bearbeitet.
Diese Ausbildung erforderte
Zeit neben dem „Dienst“
und erfolgte vor allem durch
das Anhören von Reden und
Vorträgen – stundenlanges
Gequassel.
Beim BDM war der Dienst von
20 bis 22 Uhr, denn die Mädchen
in Ausbildung oder Arbeit
hatten vorher keine Zeit. Für
das Sommerhalbjahr
konnte
ich meine
Mutter überzeugen,
dass
sie mich bis
kurz nach zehn
Uhr außer
Haus ließ. Ich
wollte abends
noch rauskommen,
aber
dafür bekam
ich nur Reden,
Vorträge, Ansprachen – und
die Front im Osten rückte
immer näher! Dann im Herbst
war eine höhere Führerin aus
Berlin gekommen und hielt
einen nicht enden wollenden
Vortrag. Ich saß auf Kohlen
und erst gegen 22 Uhr 30 war
sie endlich fertig.
Für meine Mutter war das „mitten
in der Nacht“ und sie verbot
mir, weiter „zum Dienst“ zu
gehen. Das war mir eigentlich
gar nicht so zuwider, und sollte
es Ärger geben, konnte ich
alles auf das Verbot meiner
Mutter schieben. Es verging
einige Zeit, bis die Führerin
bei meiner Mutter auftauchte.
Aber diese ließ sich nicht umstimmen
und setzte ihr Verbot
gegen die Führerin durch. So
ging meine Hitlerjugendzeit im
Herbst 1944 sang- und klanglos
zu Ende.
Als wir Anfang Februar 1945 in
Ingolstadt bei der Oma eintrafen,
begannen mit dem Schulbesuch
die Aufforderungen,
mich bei der HJ anzumelden.
Während im Osten das Reich
unterging, hatte man hier in
Bayern keine anderen Sorgen!
Aber mit den Fliegeralarmen
und Bombenangriffen
auf Ingolstadt verliefen sich
Schulbesuch und Anmeldung
zur HJ!
Dorothea Albrecht,
geb. Maßlich,
Parkstraße 8
85051 Ingolstadt
Erstellt am 28.08.2016 - Letzte Änderung am 28.08.2016.