Erinnerungen an die Heimat Landsberg und Gorzów in Frieden und Krieg
Viele Jugendjahre meines Lebens waren eng mit dem historisch außergewöhnlichen Geschehen in meiner Heimatstadt verknüpft.
Meine Kindheit
Am 17. Dezember 1934 wurde ich in der Frauenklinik Bethesda an der Friedeberger Straße in Landsberg an der Warthe, heute Gorzów Wlkp, geboren. Ein älterer Bruder hatte eine (damals übliche) Hausgeburt nicht überlebt. Landsberg/W, Regierungsbezirk Frankfurt/ Oder, war damals mit etwa 50.000 Einwohnern die größte Stadt in der Neumark, im östlich der Oder gelegenen Teil der Mark Brandenburg mit rein deutscher Bevölkerung. Meine Eltern, Ottilie und Walter Gabloffsky, hatten eine Gärtnerei in der Roßwieser Straße Nr. 48, heute ul. Koniawska. Getauft wurde ich in der Lutherkirche in der Dammstraße, Brückenvorstadt. Im Elternhaus hatte ich eine stets wohl behütete, gute und unbeschwerte Kindheit.
Meine erste Erinnerung an 1939, ich war 5 Jahre alt: Soldaten marschieren auf der Straße an uns vorüber in Richtung Roßwiese zur nahen (ca. 50 km) deutsch-polnischen Grenze.
Mein Großvater Carl Gabloffsky war aus Vorpommern gekommen, hatte als Gutsgärtner des Gutes Roßwiese, heute Zieleniec und Stadtteil von Gorzów, seine Ehefrau Louise kennengelernt und mit ihr 1890, das Grundstück in der Roßwieser Straße gekauft, um Haus und Gärtnerei aufzubauen. Großmutter Louise war nach meiner Geburt gestorben. Mein Opa bewohnte als Altenteiler die Wohnung von der vorderen Haustür rechts, mit einer großen Stube und einer Küche bis nach hinten. Oben auf dem Stubenschrank stand eine bunte Blechbüchse mit Keksen. Manchmal bekam ich einen davon. Seine Küche wurde nie benutzt. Er aß immer mit uns gemeinsam und wurde auch sonst von uns versorgt. Jedes Jahr im Spätsommer wurden Briketts in seine Küche gebracht und an der Wand hoch aufgestapelt. Er brauchte eigentlich keine, da er immer bei uns war, aber der Übergabevertrag sah es so vor. Mein Vater ärgerte sich, aber Opa bestand darauf. Ich ging mit ihm spazieren und im Sommer durfte ich ihm gelegentlich helfen, Frühbeetfenster unter dem alten Fliederbusch mitten in der Gärtnerei zu reparieren. Die unteren, morschen Holzschenkel wurden mit Blechecken wieder hergestellt, Glasscheiben erneuert, mit Knickstiften befestigt und verkittet. Die Fenster hatten 2 oder 3 Sprossen und die Maße 97 x 143 cm; die neuen Deutschen Fenster in den Maßen 1oo x 15o cm hatten 2 große eingeschobene Scheiben ohne Verkittung.
Mein Opa wohnte jetzt 50 Jahre hier, er kannte alle Anwohner der Straße und konnte sie mir alle aufzählen. Manchmal standen wir, Opa und ich, am Fenster und sahen auf die Straße. Die Hausnummern begannen an der Straßenbahn- Endstation linksseitig, über den Kuhburger Graben bis vor Roßwiese und auf der anderen Seite wieder zurück bis Nummer 67. Uns schräg gegenüber war das Haus Nr. 14 von Buttgereit. Daneben der große Holzplatz Wiedemann mit Sägerei, der bis zur Kuhburger Straße durchging. Direkt gegenüber war das Mehrfamilienhaus Nr. 15 mit der Bäckerei Feyer. Unten links war der Bäckerladen, dahinter die Bäckerei. Rechts unten wohnte Familie Feyer mit dem Sohn Kurt, der einige Jahre älter war als ich. Oben rechts war eine Familie Wolhiniendeutscher (Stichwort: Heim ins Reich!) zugezogen. Zur Bäckerei ging man um das Haus herum. Zu den großen Feiertagen wie Ostern, Pfingsten und Weihnachten, brachten wir und viele andere, große Kuchen- bleche mit zu Hause zubereitetem Kuchen zum Backen in die Bäckerei. Jedes Blech wurde mit einem kleinen Stückchen Papier, welches vom Rand des „Generalanzeiger“ abgerissen war und auf dem unserer Name geschrieben wurde, versehen. Gegen Mittag standen die gebackenen Kuchen, zu zehnt übereinander auf einer Etagenkarre und dufteten ganz herrlich. Man suchte sich seinen Kuchen heraus, zahlte pro Blech 15 Pfennige und ging nach Hause. Erwachsene je ein Blech rechts und links unter dem Arm, Kinder nur ein Blech. Das war auch besser, dann man hatte eine Hand frei, um ein oder zwei Streusel zu naschen.
Neben der Bäckerei waren zwei Hausgärten. Dann kamen drei zusammengebaute, eingeschossige- Häuser mit den Familien Lehmann, Kurzweg, Marx und Grimberger an der Ecke „Kurzer Weg“, heute, polnisch „Krotka“, was etwa „Die Kurze“ bedeutet. Hinter dem „Kurzen Weg“ und einem kleinen Bauernhof mit Garten kamen zwei dreigeschossige 6-Familienhäuser. Im ersten war im Hochparterre ein kleiner Lebensmittelladen, in dem es Salzgurken und Sauerkraut aus dem großen Holzfass gab. Dahinter, gegenüber der Gärtnerei Strohbusch (noch ein anderer Strohbusch) kam die kleine Landwirtschaft Forch und die Bäckerei Bölter. Über den Kuhburger Graben bis Roßwiese, soweit ging die Roßwieser Straße, standen die Wohnhäuser nur sehr vereinzelt zwischen mehr oder weniger großen Feldern. Kurz vor Roßwiese gab es noch einen kleinen Weg nach links. Dort stand nur ein Haus weit hinten im Feld. Dahinter hatte mein Vater etwa 1937 (!!) von einem Juden aus der Stadt, rechts und links des Weges, zwei Äcker, 2 und 5 Morgen groß, gekauft. Erst viel später erklärte mir mein Vater die kritischen Zusammenhänge. Und dann, auch noch vor Roßwiese, wohnte ein Schulfreund, dessen Vater ein Böttcher war. Von Roßwiese an zählten die Hausnummern auf der westlichen Straßenseite zurück. Zwischen Roßwiese und den Kuhburger Graben ging der Hauptangerweg ab, an dem es nur 4 große Bauerngehöfte gab. Vorne rechts wohnte eine befreundete Landwirtsfamilie und hinten links der Ortsbauernführer (Höhne??). An der Abzweigung des Hauptangerwegs von der Roßwieser Straße stand das einzige Haus, mit einer ehemaligen (teils abgebrannten) Mühle. Hier, hinter hohem Stacheldraht, war das Gefangenenlager der französischen Kriegsgefangenen, zu denen auch unser Franzose Philipp gehörte. Diesseits des Kuhburger Grabens hatten wir auch noch einen Morgen (2.500 m²) Ackerland, auf dem ein großer Hochspannungsmast stand. Die Nr. 43+44 waren die Gärtnerei Strohbusch, die Nr. 45 Kaschube, mit Tabak-, Zigarren- und Zigarettenhandel, die Nr. 46 Familie Scheffler, die Nrn. 47+48 wir mit der Gärtnerei, die Nr. 49 die Gaststätte mit Tankstelle „Aral“ von Isensee, dann Henschke, Porath, Pfarrer von Werder in der Weißen Villa, der Holzhof Gohlke, Schlosserei Deh, Fleischerei Melchert und Andere.
Der Gärtnereihaushalt meiner Mutter war groß, immer zwischen 10 und 12 Personen. Neben Mutter, Vater, Großvater und mir, lebten und wohnten bei uns im Haus drei Gärtnerlehrlinge, zuletzt Karl Wegener aus Berlinchen, Horst Krüger aus Stolzenberg, und ein Anlernling aus Dühringshof, dazu unsere Hausmädchen Ursel und Natascha. Natalja Rjejabko, 2o Jahre alt, war Ukrainerin aus Poltawa. Sie lebte in unserer Familie, arbeitete im Haushalt und in der Gärtnerei und hatte eine kleine, schräge Dachkammer in Haus. Außerdem arbeiteten einige Frauen nach Bedarf zur Aushilfe in der Gärtnerei. Unser Franzose Philipp aus Reims war Corporal, ein großer, kräftiger Mann und kam 1940/41 zu uns. Mein Vater hatte ihn ausgesucht weil er Gärtner war, und ich erinnere mich noch gut, wie mein Vater mit ihm den ersten Betriebsrundgang machte und sie sich über botanische Pflanzennamen verständigten. Langsam lernte er Deutsch, und es war lustig, seinen deutsch/französischen Erzählungen von „Fronkreisch“ zuzuhören. In den Mittagspausen lehrte er mich, Schach zu spielen; das bei uns sonst niemand spielte. Er aß bei uns, durfte aber nicht bei uns am Tisch sitzen, war die Vorschrift. Morgens kamen die Franzosen, abends gingen sie ins Lager. Der Wachmann wurde jeweils eine Woche im Wechsel von den Arbeitgebern der Kriegsgefangenen verköstigt.
Vater hatte die Gärtnerei vom Großvater Carl 1931 nach seiner Heirat übernommen. Unsere Gärtnerei bestand aus 7 Gewächshäusern, die zentral von einer koksbefeuerten Warmwasserheizung beheizt wurden. Hinzu kamen viele Frühbeetkästen, teils auch beheizt, und viel Freiland bis durch zur Reimannstraße. Wir hatten ein Pferd und einen gummibereiftem Wagen. Es wurden Blumen, Frühgemüse und Feldgemüse angebaut. Die gärtnerischen Erzeugnisse wurden auf dem Marktplatz, dem heutigen „Stary Rynek“, verkauft. Wir hatten einen Wochenmarktstand unter den alten Bäumen neben dem Paucksch-Brunnen zur Schloßstraße hin. Im Sommer, wenn ich mit auf dem Markt war, durfte ich mir aus der gegenüber liegenden Italienischen Eisdiele ein leckeres Eis holen. Unser Pferd, ein etwas nervöser Fuchs, der die beladenen Wagen zum Markt zog, lief nicht gern über die Gerloff- Brücke. Wenn aber auf der Ostbahn ein Zug donnerte, scheute er, war nur mit Mühe zu halten und galoppierte die Brückenstraße zum Markt hoch. Auch an Blumengeschäfte wurde geliefert und zu Hause verkauft. Im Spätherbst wurde im Quilitzpark, an Rodelbahn und Schanze, Laub geharkt. Das Laub diente im Winter als Frostschutz und später verrottete es zu Lauberde. Das Serum-Institut in der Heinersdorfer Straße hatte für seine Arbeit viele Pferde aufgestallt. Der dort anfallende Pferdemist wurde in der Gärtnerei zum Düngen und zum Packen der Frühbeetkästen genutzt. Einmal fuhr ich mit Vater, Pferd und Wagen zum Hauptbahnhof, um eine Pflanzensendung abzuholen. Wir fuhren die Brauerstraße entlang, und Vater zeigte nach rechts auf einen großen Trümmerhaufen. „Da stand die jüdische Synagoge“ sagte er, ohne jeden weiteren Kommentar, trotz meiner Fragen.
Meine Schulzeit 1941 - Mitte 1944
Im Herbst 1941 kam ich in die Knabenvolksschule II in der Angerstraße. Mein Schulweg führte die Roßwieser Straße entlang, über die Kanalbrücke, in die Dammstraße und dann durch den Park in die Schule. Meine Klassenlehrer/ innen waren in der 1. Klasse Frau Niether, in der 2. Klasse Frl. Sauer und in der 3. Klasse Herr Wieczorek. Herr Wiecorek unterrichtete auch Musik und begleitete unseren Gesang mit der Geige. Wer nicht oder falsch sang, bekam die Spitze des Geigenstocks auf dem Kopf zu spüren. Einmal hatte er bei meinem Vater eine Hortensie bestellt. Ich musste den Topf mit der dreistieligen Hortensie eingewickelt in die Schule tragen. Unterwegs brach natürlich ein Stiel ab. Wir haben versucht, das Malheur mit Heftpflaster zu vertuschen, aber der Lehrer hat es natürlich sofort gemerkt und gab mir die Blume zurück.
Zum Geburtstag des Führers am 20. April mussten wir auf dem Schulhof unter der Fahne antreten. Der Rektor schwang eine Rede, und dann mussten wir, den Führer mit der rechten Hand grüßend, das Deutschlandlied und anschließend das Horst-Wessel- Lied singen. Manchmal, wenn keiner guckte, haben wir die Hand auf dem Kopf des rechten Vordermanns abgestützt. Danach war schulfrei. Meine Schulfreunde waren Horst Kitzmann, Klaus Seehaver, Heissig (Heissig heiß ich, sagte der Lehrer) aus der Probstei (Böttcherei) und Siegfried Sawatzki, aus dem Gohlke’schen Haus im Kurzen Weg. Im Sommer, wenn es sehr warm war, gingen wir zum Baden an den Brenkenhoff- Kanal. Östlich der Kanalbrücke waren einige sandige, gut besuchte Badestellen. Als ich 8 Jahre alt war, beschlossen meine Eltern, dass ich schwimmen lernen sollte. Ich wurde also im Volksbad zum Schwimmkurs angemeldet und fuhr nach der Schule mit der Straßenbahn dorthin. Rechts und links des hochgelegenen Beckens lagen die Umkleidekabinen. Der Schwimmlehrer stand am Beckenrand und verpasste mir einen Korkgürtel. Nach einigen Trockenübungen sollte ich an der Angel von oben ins Becken springen. Ich hatte Angst und weigerte mich. Schließlich stieß er mich hinein, ließ mich Wasser schlucken und holte mich erst dann mit der Leine an den Rand. Ich wurde nie ein guter Schwimmer, schaffte nicht mal nach Schluss den Freischwimmer. Anschließend habe ich allerdings im Kanal weiter geübt und nach einiger Zeit den Freischwimmer nachgeholt.
Eines Mittags fuhr ich nach der Schule und dem Schwimmen mit der Straßenbahn nach Hause. Es war heiß, und ich war müde. Die Straßenbahn zuckelte durch die lange Dammstraße. Ich stand auf dem hinteren Perron. Kurz vor der Kanalbrücke kam der Schaffner und verlangte den Fahrschein, den ich bei der Abfahrt am Markt bei ihm gekauft hatte. Ich suchte den Fahrschein und fand ihn nicht. Ich beteuerte, den Fahrschein bei ihm gekauft zu haben, dass müsste er doch eigentlich wissen. Wir waren längst an der Endstation „Kanalbrücke“ angekommen, er aber blieb hart und so musste ich die Fahrt noch einmal bezahlen. Ich wusste genau, dass ich schon einmal bezahlt hatte und heulte, weil er mir nicht glaubte.
Mitte Dezember 1943 war ich mit meiner Mutter, wie immer in den letzten Jahren, im Stadttheater zum Weihnachtsmärchen. Ich fühlte mich nicht gut und auch „Peterchens Mondfahrt“ konnte mich nicht aufmuntern. Auf dem Rückweg waren wir zu einem Kurzbesuch bei Tante Hannchen, Onkel Karl und den Cousinen Christel und Käthchen, Fleischerei Wiedemann in der Brückenstraße. Dort im Bad kam warmes Wasser aus der Wand. Endlich zu Hause, legte ich mich ins Bett und fühlte mich krank. Unser Hausarzt, der alte Sanitätsrat Dr. Kran aus der Dammstraße wurde gerufen. Er stellte Scharlach fest, eine damals sehr ernst zu nehmende, ansteckende Krankheit. Ich musste, kurz vor Weihnachten, ins Städtische Krankenhaus an der Zechower Straße und dort auf die Isolierstation (ehemalige katholische Schule) neben der katholischen Kirche. Mein Gesundheitszustand hatte sich schnell verschlechtert; doppelseitige Mittelohrentzündung und Entzündungen der Nase und eines Auges kamen hinzu. Drei Monate war ich nicht in der Schule, hatte die Grundlagen zu Bruchrechnen versäumt und es auch später nie so recht verstanden. Im Frühjahr oder Sommer wurde auf den Wiesen am Kanal, hinter der Eisenbahnbrücke, eine Phosphorbombe vor vielen Zuschauern zur Explosion gebracht. Es wurde demonstriert, wie solche Brände zu löschen sind, da aus den großen bombardierten Städten das Gerücht aufgekommen war, dass solche Brände nicht löschbar sind. An einen Luftalarm in Landsberg kann ich mich nicht erinnern. Einmal aber war ich bei Verwandten in Küstrin zu Besuch, da heulten nachts die Sirenen, und wir mussten in den Keller.
Der Anfang vom Ende, 1944/45
Im Sommer, es war ein sehr klarer, sonniger Tag in Landsberg, zogen sehr hoch über uns Schwärme von großen Flugzeugen von West nach Ost. Mein Onkel Otto aus Berlin, Soldat in Italien, war in seinem Urlaub zu Besuch bei uns. Wir standen alle in der Gärtnerei und sahen nach oben. Mein Onkel klärte uns auf: Das sind Amerikaner. Die haben in Berlin ihre Fracht abgeladen; jetzt fliegen sie nach Osten weil es inzwischen zum Russen näher ist.
Im August 1944 starb mein Großvater Carl Gabloffsky. Ich hatte Großvater öfter zum Grab der Großmutter, begleitet. Opa sprach dann mit Oma. Ob sie ihn wohl hören konnte? Jetzt wurde Opa auf dem Erbbegräbnis neben Oma begraben, unweit von der alten Friedhofskapelle. Tante Frieda, Opas Schwiegertochter, war in Berlin-Wilmersdorf ausgebombt und zog mit ihrem Hab und Gut zusammen mit ihrem Sohn Horst, meinem Cousin, in Opas Wohnung ein. Horst was ein fescher Fähnrich. Er spielte auf der Geige, erzählte vom Krieg am Ilmensee und scherzte mit unserem Hausmädchen Ursel. Und ich erinnere mich an die Werbung, Reklame oder Propaganda, wie es damals hieß: „Räder müssen rollen für den Sieg“, stand auf den Tendern der Lokomotiven (Kohleanhängern) geschrieben; „Feind hört mit“ oder „Kohlenklau“, der schwarze Mann mit dem Sack auf dem Rücken. Ein freundliches Plakat mit einer lachenden Wäscherin in strahlendem weiß und blau mit dem Text: „Man kann sich auch getrennt noch lieben“ – PERSIL.
Im Spätsommer/Herbst 1944 kam ich in die 4. Klasse. Der neue Klassenlehrer hieß Herr Niether. Er erschien öfter in SA-Uniform. Viel haben wir Herrn Niether nicht gesehen, da der Unterricht mehr und mehr ausfiel. Die Lehrer wurden zur Wehrmacht und zum Volkssturm einberufen, und die Schule wurde erst mit Verwundeten und dann mehr und mehr mit Flüchtlingen aus dem Osten belegt. Was die Erwachsenen dachten und sprachen erfuhr ich nicht. Lange vor Weihnachten schon hörten wir Meldungen des Deutschland-Senders über den Einbruch der Russen in Ostpreußen und ihren Gräueltaten an der Zivilbevölkerung. Ich hatte Angst und weinte im Bett.
Über Weihnachten und Sylvester waren Ferien gewesen aber auch im Januar begann der Unterricht nicht wieder. Der Russe kam näher. Wir hörten es in den Nachrichten. Die Sondermeldungen mit den ankündigenden Fanfarenklängen waren längs verklungen.
Mitte Januar war die Straße voll von Menschen und Fahrzeugen aller Art. Flüchtlinge, Verwundete, deutsche Soldaten und Verbündete. Ein großer Militär-LKW fuhr auf unsere Einfahrt und hielt dort. Hinten auf der offenen Ladefläche saßen etwa 10 bis 12 ausgemergelte Gestalten in Lumpen. Russen? Ich weiß es nicht. Sie hatten aus Holz Spielzeug gebastelt und bettelten um Brot. Jemand sagte zu den Soldaten: „Lasst sie doch frei, die tun Euch doch nichts mehr“! Ein Soldat lachte: „Die sind unsere beste Lebensversicherung, solange die bei uns sind, kann uns nichts passieren!“
Am 25. Januar etwa bekam der Wachmann der französischen Kriegsgefangenen den Befehl, mit seinen Franzosen in Richtung Westen abzumarschieren. Später erfuhren wir, unser Philipp hat uns noch einmal im März 45 besucht, dass sie schon in Neudamm von den Russen überrollt und nach Landsberg zurück gebracht worden waren. Über Russland sollte es in den nächsten Tagen nach Hause gehen. Schon wurde offen diskutiert: Gehen oder bleiben? Die offizielle Propaganda verbot die Flucht und noch Ende Januar sprach der NS-Leiter Handtke über Drahtfunk zu den Landsbergern, dass keine Gefahr bestünde. Die Front würde gehalten und der Feind mit neuen Armeen und Waffen weit zurück geworfen. Ob der wirklich noch in Landsberg ist, wurde schon laut gefragt. Am Morgen und Vormittag des 29. Januar sahen wir im Nordosten einen feuerroten Horizont. Stolzenberg brennt, sagten die, die es wissen mussten. Vater war mit seinen Feuerwehrkameraden frühmorgens zum Volkssturmeinsatz in das Feuerwehr-Depot in die Moltke-Straße, gegenüber dem Volkswohlfahrtshaus gerufen worden. Zwei Stunden später war er wieder zu Hause. Der Feuerwehr- Hauptmann, Erich Messer, der die Männer dem Volkssturm zuführen sollte, hatte gesagt: „Wir hauen ab!“ Er ordnete an, alle Feuerschutzgeräte, Leitern, Pumpen und anderes aus den Feuerwehrautos zu entfernen. „Wer mit will, kann mit seiner Familie und je einem Stück Gepäck mitfahren, in drei Stunden fahren wir los.“
Vater beriet mit meiner Mutter, und die Entscheidung war schnell gefällt: „Wir haben keinem etwas zu Leide getan und sind dann als erste wieder zu Hause. Wir bleiben“! Etwa gegen 11 Uhr vormittags kam die Kolonne der Feuerwehrautos die Roßwieser Straße entlang und hielt bei uns kurz an. Die Wagen waren voller Koffer und Menschen, auch Wiedemanns waren dabei. Man hatte sich entschlossen, nicht die verstopfte Reichsstraße 1 nach Küstrin zu nehmen, sondern über Roßwiese und Zielenzig zu fahren. Gegen Mittag öffnete der Pole (oder Belgier?) die Ladentür der Fleischerei Melchert in der Roßwieser Straße 56 (?) und verteilte alle Fleisch- und Wurstwaren aus dem Laden und den Vorratsräumen: ohne Geld und ohne Marken. Danach, nachmittags, war die Roßwieser Straße wie leer gefegt, keiner traute sich heraus, niemand wusste, was kommen würde. Mein Vater hatte den Lehrlingen frei gestellt, zu bleiben oder nach Hause zu gehen. Alle blieben.
Am Abend, es war dunkel,
verlöschte plötzlich das elektrische
Licht, und Sekunden
später gab es eine gewaltige
Explosion. Die Gerloff-Brücke
war in die Luft geflogen. Mit
ihr die Versorgungsleitungen
für Strom und Wasser. Für
uns war dieser Umstand nicht
so gravierend wie für viele
andere Menschen. Wir hatten
Petroleum- und Karbidlampen
für die Gärtnerei und den
Stall. Zudem stand auf dem
Hof eine große, wegen des
Frostes im Januar mit Stroh
eingepackte Schwengelpumpe,
außerdem gab es noch
eine weitere in der Gärtnerei.
In dieser Nacht harrten wohl
alle in angespannter Erwartung
und angstvoll auf das unbekannte,
kommende Schicksal.
Gegen Mitternacht wurden
wir durch fernes Maschinengewehrfeuer
geweckt. Das Elternschlafzimmer,
in dem auch
ich schlief, hatte die 2 Fenster
zur Straße. Auf der Straße
sahen wir Leuchtspurmunition
nach Süden jagen. Sonst war
es still. Später hörten wir, dass
aus Meseritz nach Landsberg
zurückkehrende Volkssturmleute
auf der Kanalbrücke von
den Russen abgefangen und
beschossen worden waren.
Gegen 5 Uhr morgens vernahmen
wir Geräusche auf der
Straße. Wir konnten nur etwas
hören, aber nichts sehen, da
die inneren Holzladen vor den
Fenstern geschlossen waren.
Mein Vater öffnete den Holzladen
etwas, um auf die Straße
sehen zu können. „Pferdefuhr-
werke und Soldaten in
fremden Uniformen, wahrscheinlich
Ungarn!“ Die waren
die letzten Verbündeten von
uns und auch in den vergangenen
Tagen durchgezogen.
Werner Gabloffsky
Gödringer Straße 23
D 31157 Sarstedt
Email: werner@gabloffsky.de
09.02.2015
Fortsetzung im nächsten Heft (Nr. 51).
Erstellt am 27.08.2016 - Letzte Änderung am 27.08.2016.