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Aus dem
Heimatblatt
der ehemaligen Kirchengemeinden Landsberg Stadt und Land
Heft Nr. 50 (Juni 2015)

Kinderjahre in Landsberg/Warthe (Teil 1)

Am 16. 05. 1934 wurde ich in Landsberg/Warthe als Kind einer Arbeiterfamilie geboren. Mein Vater verstarb bereits 1938. Nach seinem Tode lebte meine Mutter mit meinem 13 Jahre älteren Bruder und mir in einer Mietwohnung in einem Hinterhaus der Küstriner Straße 85.

Leicht hatte es meine Mutter mit ihren beiden Kindern sicher nicht. Sie bekam nur eine kleine Hinterbliebenenrente von ihrem Mann. Die Rente war aber - entsprechend dem früheren Verdienst und infolge der längeren Arbeitslosigkeit und Krankheit von Vater - viel zu klein, um allein davon leben zu können. So musste Mutter sich verstärkt nach Arbeit umsehen. Sie ging zur „Aufwarte“ bei verschiedenen begüterten Familien, als billige Reinigungskraft und Haushalts-hilfe. In einer Landsberger Schule, wo die Familie Kuhrt, die Mutti aus der katholischen Kirchengemeinde kannte, eine Hausmeisterstelle hatte, konnte sie ein paar Stunden in der Woche gegen ein bescheidenes Entgelt bei der Schulreinigung helfen. Sie hat das jahrelang bis 1945 getan. Längere Zeit fuhr sie in der Brückenvorstadt Zeitungen aus, hauptsächlich den lokalen „Landsberger General-Anzeiger“. Außerdem nähte sie auf ihrer Nähmaschine, die gleich zu Beginn ihrer Ehezeit angeschafft worden war. Auch das brachte etwas Geld ein. Schließlich ging es in den Sommermonaten mit dem Fahrrad - ich vorn im Körbchen - in den Wald, um Blaubeeren, Preiselbeeren und Pilze zu suchen, die es damals in der Umgebung der Stadt reichlich gab. natürlich auch für den eigenen Verbrauch, aber hauptsächlich für den Verkauf. Alfons, mein großer Bruder, war schon 1937 nach der 8. Klasse bei einem bekannten Landsberger Lebensmittelund Delikatessengeschäft als Kaufmannslehrling angenommen worden. Er war nun nach dem Tode von Vater bereits im zweiten Lehrjahr und bekam ein paar Mark Lehrlingsentgelt für seine Tätigkeit im Geschäft. Die Familie konnte insgesamt mit ihren Einnahmen wahrlich keine großen Sprünge machen. Wir hatten aber auch keine überzogenen Ansprüche, so dass wir alles in allem ganz ordentlich leben konnten. Aber vieles war auch schön in diesen Jahren. An den Wochenenden und in den Schulferien fuhren wir, wie schon erwähnt, in den Sommer- und Herbstmonaten häufig in den Wald, eben um Beeren oder Pilze oder beides zu holen – schön war es im Wald immer. Manchmal fuhren wir auch nach Zanzin zur Großmutter. Dort konnte man herrlich draußen spielen, anders als auf der Straße in der Stadt. Irgendein Onkel hatte eine Schaukel gebaut, so dass ich auch nach Herzenslust schaukeln konnte. Auch in Hammelbrück, wo Verwandte wohnten, waren wir mehrfach. Da gab es einen Bach, in dem man zeitweise eine Unmenge von Krebsen finden konnte. Das Krebsefangen war eine interessante Sache: man musste abends, mit der Taschenlampe in der Hand, die im Bach liegenden Steine umdrehen, unter denen sich in der Regel die Tiere befanden, um dann mit der Hand die Krebse zu greifen und in den mitgebrachten Eimer zu werfen. Das war gar nicht so leicht, manchmal ziemlich aufregend – man wollte ja nicht mit den Scheren der Krebse Bekanntschaft machen – aber es machte großen Spaß. Einige meiner noch vorhandenen Erinnerungen sind mit verschiedenen Ecken der Stadt und mehreren meiner Spielplätze verbunden.

Beliebter „Buddelplatz“ war der Schulberg, wenige hundert Meter von unserer Wohnung entfernt, eine kleine schattige Parkfläche, etwas erhöht in der Gabelung zweier Straßen gelegen. Die einzige Erinnerung an meinen Vater bezieht sich auf diesen Ort, an dem er öfter mit mir zum Spielen gegangen ist. Gleich daneben stand die Volksschule (Pestalozzischule), die ich bis zum Ende der 4. Klasse besuchte. Ihr Schulhof war nachmittags unser Platz für Ballspiele, zum Beispiel für den beliebten „Völkerball“. Ein Stückchen weiter lag der Landsberger Schlachthof, zu dem ein großes eingezäuntes Gelände gehörte, wohin das angelieferte Vieh zunächst getrieben wurde und auf dem auch der Viehmarkt stattfand. In einer Ecke standen einige alte ausrangierte Möbelwagen. Obwohl wir eigentlich den Platz nicht betreten durften, kamen wir immer irgendwie durch den vorhandenen Zaun. In den alten Wagen ließen sich herrliche Buden und Verstecke bauen, von denen aus man das ganze Gelände ungesehen beobachten konnte. Nur erwischen lassen durfte man sich nicht. Aber das passierte uns Kindern auch nicht, wir konnten immer rechtzeitig ausreißen, wenn ein Wächter in die Nähe kam.

Manchmal ging ich mit meinem Bruder Alfons an die Warthe zum Angeln. Für meine Begriffe war die Warthe schon ein recht großer Fluss – ich kannte ja auch keinen anderen! Wir saßen auf den Buhnen, betrachteten die Lastkähne, die den Fluss in beiden Richtungen befuhren, sowie die großen Flöße aus Baumstämmen, die flussabwärts „geflößt“ wurden, und warteten darauf, dass ein Fisch anbiss. Manchmal fingen wir ganz ordentliche Exemplare, die für eine Mahlzeit ausreichten, ein andermal waren die Fische aber auch so klein, dass sie wieder in das Wasser geworfen wurden. Eines schönen Tages verlor mein Bruder, der mit seiner Angel in einem seitwärts an der Buhne festgemachten Kahn stand, das Gleichgewicht und fiel in die Warthe! Nass wie ein begossener Pudel musste er durch die Straßen nach Hause laufen, zur Belustigung der Leute. Auch so etwas konnte man also beim Angeln erleben! Ein anderer Platz wurde zumeist nur im Winter besucht, obwohl es sich um einen Ort handelte, der zu jeder Jahreszeit zum Herumtoben bestens geeignet war. Ging man gleich hinter der Schule gegenüber unserem Haus die Soldiner Straße weiter in Richtung Nordwesten stadtauswärts in Richtung des „Galgenberges“, dem wohl höchsten Punkt an dieser Straße, dann gelangte man an den Rand der „Wepritzer Berge“ in die sogenannte „Schlucht“, in einen recht langen Geländeeinschnitt, der sich von den Höhen an der Soldiner Straße bis an die südwärts schon in der Wartheniederung gelegene Ausfallstraße nach Küstrin – die berühmte „Reichsstraße Nr. 1“ – hinzog. Das ergab im Winter eine lange ideale Rodelstrecke. Bei ausreichendem Schnee - und den gab es in jenen Jahren wohl praktisch in jedem Winter - waren wir Kinder der ganzen Umgebung genauso wie viele Erwachsene in dieser Schlucht zum Schlittenfahren. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie wir hier mit unseren Schlitten herumtobten. Manchmal bis zum Dunkelwerden, was dann meistens zu Hause wegen der späten Rückkehr für Ärger sorgte.

Etwa in halber Höhe der Soldiner Straße gab es stadtauswärts auf der rechten Seite den „Sonnenplatz“ mit der hier beginnenden und im Volksmund so benannten „Gelben Gefahr“! Hier standen die „Plesserschen Häuser“ und die Häuser der GEWOBA, einer gemeinnützigen Wohnungsgesellschaft, deren Bewohner sich untereinander nicht mochten Von dieser Gegend und ihren gelbgestrichenen Häusern – daher der Name „Gelbe Gefahr“! – hielt man sich lieber fern. Man war da nicht gern gesehen. Eigenartig ist, dass ich als Kind an jenem Ort die gleichen Eindrücke und Gefühle hatte, von denen auch die Schriftstellerin Christa Wolf berichtet, als sie nach sechsundzwanzig Jahren ihre Geburtsstadt wieder besuchte, obwohl sie doch aus einem ganz anderen Milieu als ich stammte, ich aus einer mehr kleinbürgerlichen Umgebung. Sie schreibt in ihrem Buch „Kindheitsmuster“ darüber: „Das unregelmäßige Ziegelsteinpflaster..., Pfad im grundlosen Sand des Sonnenplatzes. Das Spätnachmittagslicht, das von rechts her in die Straße einfällt und von den gelblichen Fassaden der Pflesserschen Häuser zurückprallt. ... Mag sein, der Platz war auch früher schon ein bißchen schäbig. Stadtrand eben. Zweistöckige Wohnblocks der GEWOBA (... Gemeinnützige Wohnungs-baugenossenschaft...), Anfang der dreißiger Jahre in den weißen Flugsand der Endmoräne gesetzt, die die Wepritzer Berge, geologisch gesehen, darstellten..., die - mögen sie heute heißen, wie sie wollen - als riesiges Quadrat von zweihundert Meter Seitenlänge einen sehr großen Innenhof umschließen... Wie einst ... galt das Verbot, einen dieser Torbögen zu durchschreiten, einen dieser Höfe zu betreten. Dass kein GEWOBA-Kind seinen Fuß ungestraft auf Pflesserschen Grund setzte, war ein für allemal ausgemacht durch ein ungeschriebenes Gesetz, das keiner verstand aber jeder einhielt.“

Die Scheu, sich jenen Häusern und Höfen zu nähern, betraf nicht nur die Kinder der beiden sich befehdenden Wohnanlagen um den Sonnenplatz. Selbst wir Kinder aus einer Gegend, die doch ein beträchtliches Stück davon entfernt lag, hatten überhaupt kein Verlangen, uns dieser „Gelben Gefahr“ zu nähern, weder den Plesserschen Häusern noch den Häusern der Wohnungsgesellschaft. Wir achteten immer darauf, dass wir möglichst schnell daran vorbeikamen. Aber was steckte eigentlich hinter einer solchen Haltung? Hier am Sonnenplatz wohnten vor allen Dingen arme Arbeiterfamilien, häufig mit linker politischer Einstellung. Ihrer sozialen Lage nach waren sie in der gleichen Situation wie wir arme Leute aus den Hinterhäusern an der Küstriner Straße - und trotzdem gab es eine Barriere, die in der mündlichen Überlieferung weitergegeben wurde und zu solch einer seltsamen „Kontaktsperre“ führte. Wahrscheinlich wirkten hier nicht nur bürgerliche und kleinbürgerliche Vorbehalte gegen die „Linken“, sondern auch in Proletarierkreisen selbst - auch in unserer Familie - bewusst oder unbewusst die konservative religiöse Grundhaltung und Erziehung, die dazu führte, dass wir uns von Atheisten, die „linke Leute“ nun einmal in der Regel waren, mehr oder weniger fernhielten.

Auch an meine ersten Theaterbesuche kann ich mich ein wenig erinnern. Es muss schon in den vierziger Jahren gewesen sein, als ich zweioder dreimal das jeweilige Weihnachtsmärchen im Landsberger Stadttheater besuchen durfte. Dazu gehörten zum Beispiel die Oper „Hänsel und Gretel“ von Humperdinck und auch „Hanneles Himmelfahrt“, ein damals häufig gespieltes Theaterstück für Kinder von Gerhard Hauptmann. Soweit ein paar Erinnerungen, die auf eine gänzlich unbeschwerte Kinderzeit zu verweisen scheinen. Aber die Lebensumstände in den Jahren, von denen hier erzählt wird, wurden zunehmend schwieriger. Dazu gehörte der Machtantritt der Nationalsozialisten Anfang der dreißiger Jahre, ebenso die Tatsache, dass auch mein Vater diesen Demagogen zunächst auf den Leim gegangen war, in der Hoffnung auf Arbeit und ein besseres Leben, ohne zu erkennen, dass der Weg der Nazis in die Katastrophe führte. Ein knappes Jahr nach seinem Tod war bereits Krieg! Am 1. September 1939 hatte mit dem deutschen Überfall auf das benachbarte Polen der zweite Weltkrieg begonnen, der auch entscheidend in unser Leben eingreifen sollte. Äußerlich veränderte sich zunächst nur wenig. Meine Mutter war im großen und ganzen unpolitisch, obwohl sie sich um die Zukunft Sorgen machte. Sie war aber prinzipiell schon deswegen gegen die Nazis, weil deren Anhänger es geschafft hatten, Vater zur SA zu holen. Ich war zunächst noch zu klein, um zu verstehen, was da eigentlich in Deutschland und in der Welt vor sich ging. Aber vieles von dem, was nun geschah und in meiner Erinnerung haften geblieben ist, hat in irgendeiner Weise mit dieser Zeit in Deutschland und dem Krieg und seinen mittelbaren oder unmittelbaren Folgen zu tun. Davon soll nun so ausführlich, wie ich es nach meinen Erinnerungen vermag, erzählt werden.

Die Monate vor und nach dem Kriegsbeginn am 1. September 1939 waren für uns Kinder an der Küstriner Straße recht interessante Zeiten. Nicht nur auf dem Bahnweg der „Ostbahn“, sondern auch auf der Durchgangsstraße von Berlin über Küstrin nach Schneidemühl, einem Teilstück der großen „Reichsstraße 1“ von Aachen nach Königsberg, fuhren lange Truppentransporte nach Osten. Da gab es eine Menge zu beobachten. So viele Soldaten mit ihren Fahrzeugen und Kriegsgeräten verschiedener Art hatte ich bis dahin noch nicht gesehen, obwohl es zwei große Kasernen in Landsberg gab. Mehr war vom Krieg aber auch zunächst nicht unmittelbar zu verspüren, bis auf ein schlimmes Ereignis als Folge des deutschen Überfalls auf Polen: da meine Großeltern mütterlichereseits und eine Reihe der Geschwister meiner Mutter nach dem ersten Weltkrieg nicht für Deutschland optiert hatten, also der Nationalität nach Polen waren und im polnischen Raum lebten, nun dort der Krieg und deutsche Besatzungsmacht herrschten, schließlich aus den eroberten polnischen Gebieten ein deutsches „Generalgouvernement“ und der „Reichgau Wartheland“ entstand, brach für längere Zeit jeder Kontakt zu diesen Verwandten ab. Das war für Mutti sehr traurig, und ich weiß, dass sie immer wieder erneut Briefe geschrieben und gehofft hat, dass sie ihre Adressaten erreichen mögen und Lebenszeichen von ihren Eltern und Geschwistern kommen würden. Aber das war eben nicht der Fall, die Ungewissheit, ob sie überhaupt noch am Leben waren, blieb. Erst nach dem Krieg haben wir erfahren, dass sie weiter nach Osten deportiert wurden. Seit Ostern dieses Jahres 1940 ging ich in die Pestalozzischule gleich unserer Wohnung schräg gegenüber. Es war meines Wissens der letzte Schülerjahrgang, der das Schuljahr zu Ostern begonnen hat. Im folgenden Jahr wurde der Schuljahresbeginn nach den Sommerferien des jeweiligen Jahres eingeführt. Mein Jahrgang war auch der letzte, der in der Schule noch nach der alten deutschen Schulschrift, der „Sütterlin- Schrift“, das Schreiben erlernte, so dass ich auf die neu eingeführte lateinische Schrift „umlernen“ musste, was aber wohl keine großen Umstände machte, höchstens, dass meine Schrift immer schlechter wurde!

Nun schien für Mutti auch die Zeit gekommen zu sein, zu der ich näher und enger an die katholische Kirche herangeführt werden sollte. Unsere Mutter war eine fromme Christin, die ihren katholischen Glauben sehr ernst nahm. Sie war aber weder eine Heuchlerin, die nur der Umwelt und der Tradition zuliebe religiös erschien, noch eine frömmelnde Betschwester, sondern sie war von der Richtigkeit der katholischen Glaubenslehre ehrlich überzeugt und nahm sie als eine Richtschnur für ihr Leben. Daraus hat sie von ihren Jugendjahren an bis an ihr Lebensende immer wieder Kraft geschöpft, um mit ihrem manchmal doch sehr schweren Leben fertigzuwerden. Natürlich wurde ich ebenfalls im katholischen Glauben erzogen. Es war für mich ganz normal, dass wir an Sonn- und Feiertagen regelmäßig in die Kirche gingen, zumeist zur eindrucksvollen Zehn-Uhr-Messe, zum feierlichen „Hochamt“ in die katholische Heilig-Kreuz- Kirche. Die Kirche war mir also kein ungewohnter Raum. Nun aber sollte ich „Ministrant“ werden, ein Messdiener also, der bei den religiösen Zeremonien in der katholischen Kirche eine Art Gehilfe des Priesters ist. Bisher hatte ich die Ministranten am Altar immer nur von weitem in der Kirche beobachten können, nun sollte ich selbst zu ihnen gehören. Selbstverständlich musste man erst lernen, den Dienst am Altar fehlerfrei auszuführen. Das war durchaus nicht so einfach. Ich kam Ende 1940/Anfang 1941 zu Pfarrer Paul Dubianski, einem jüngeren Priester vom Geburtsjahrgang 1906, der Ende Mai 1940 nach Landsberg kam und in der katholischen Gemeinde der „Heilig-Kreuz-Kirche“ sehr beliebt wurde, „in die Lehre“. Pfarrer Dubianski führte mit uns neuen Ministranten so manche Übungsstunde durch und dirigierte uns schließlich bei den ersten Einsätzen im Messdienst am Altar oftmals leise mit kleinen Kommandos und Hinweisen, bis wir es endlich gelernt hatten, das Zeremoniell einwandfrei und dem jeweiligen Anlass entsprechend zu bewältigen. Und unterschiedliche Anlässe gab es zur Genüge. Ein Satz von Pfarrer Dubianski gegenüber seinen Ministranten lautete immer wieder: „Und wenn es Kindsköpfe hagelt - ihr habt pünktlich zu sein!“ Mir machte diese Tätigkeit Spaß. Obwohl es zuerst gar nicht so erwartet werden konnte, kam ich gerade durch meine Ministrantentätigkeit mit den Kriegsereignissen und den inneren Vorgängen in Nazideutschland in mehr oder weniger direkte Beziehung. An die folgenden Umstände und Ereignisse kann ich mich besonders erinnern.

Da ergab sich zum Beispiel der Einblick in Gefangenenund Zwangsarbeiterlager, den damals sicher nur recht wenige Menschen haben konnten, sofern sie nicht selbst in der Nähe solcher Lager arbeiteten oder sogar darin ihren Dienst versahen. Am nordöstlichen Stadtrand von Landsberg, östlich der Friedeberger Chaussee, hatten die IG-Farben, einer der größten Chemie- und Rüstungskonzerne Deutschlands und als Kriegsverbrecher nach 1945 von einem Internationalen Tribunal gebrandmarkt und verurteilt, ein großes Werk errichtet. Hier lebten in Barackenlagern viele zur Arbeit in Deutschland zwangsverpflichtete Menschen aus den inzwischen von den deutschen Truppen besetzten Ländern, vor allem aus Osteuropa. Hier arbeiteten auch Kriegsgefangene, die in einem besonderen Lagerteil untergebracht waren. Von Zeit zu Zeit durften in den Unterkünften Gottesdienste veranstaltet werden. Pfarrer Dubianski nahm mich als Ministrant mehrfach mit in die Lager beim IG-Farben-Werk. Ich weiß noch ganz genau, wie mich die ganze Atmosphäre beeindruckt hat. Unmittelbaren Kontakt hatte ich aber zu diesen Menschen nicht, weder zu den Zwangsarbeitern noch gar zu Kriegsgefangenen. Gespräche durften wir nicht führen. Auch wenn ich die Kriegssituation insgesamt und die Lage der Menschen in den Lagern wohl kaum richtig verstand, waren es für mich immer ernste Stunden auf dem Lagergelände der IG-Farben.

Ein zweiter Vorgang ist seinem Wesen nach sicher noch viel tragischer gewesen, obwohl ich auch hier erst später begriffen habe, worum es sich dabei überhaupt handelte. Etwa 1942 habe ich Pfarrer Dubianski öfter zu Beerdigungen begleiten müssen, die von der „Brandenburgischen Heil- und Pflegeanstalt“, im allgemeinen Sprachgebrauch kurz als Landesirrenanstalt bezeichnet, ausgingen. Diese Einrichtung befand sich ebenfalls an der Friedeberger Chaussee. Wir fuhren mit dem „Trolleybus“, einem damals modernen elektrischen Oberleitungsbus, bis zur Anstalt. Dort angekommen, zogen wir unsere Gewänder an, bei kaltem Wetter auch manchmal gleich über den Mantel oder die Jacke. Nun sind Sterbefälle in einer Heil- und Pflegeanstalt ja nicht ungewöhnlich. Aber diese Beerdigungen waren eigenartig. Es gab hier keine Trauerfeiern, wie sie sonst vor Beisetzungen in der Kirche oder Friedhofskapelle üblich waren. Auch Angehörige waren niemals anwesend, was mich sehr verwunderte, denn von den Beerdigungen auf dem katholischen Friedhof, an denen ich sonst teilnahm, war ich immer eine zumeist größere Anzahl von Trauergästen gewöhnt. Hier gab es keine trauernden Angehörigen! Auf uns wartete bereits ein Pferdewagen, auf dem jeweils mehrere Särge standen. Der Pferdewagen fuhr auf der Friedeberger Chaussee weiter stadt-auswärts bis zu einem kleinen Friedhof, der abseits der Straße lag. Pfarrer Dubianski folgte dem Wagen zu Fuß. Ich ging als Ministrant mit einem Holzkreuz, das zu Beerdigungen immer mitgeführt wurde, noch vor ihm, gleich hinter dem Gefährt. Auf dem Friedhof wurden die Särge auf Stangen über die schon vorbereiteten Gräber gestellt. Der Pfarrer sprach seine Gebete und besprengte die Särge mit Weihwasser. Damit war unsere Aufgabe auch schon erledigt. Ich weiß noch, dass ich Pfarrer Dubianski gefragt habe, was das denn für Verstorbene seien, aber ich habe damals nur eine ausweichende Antwort bekommen. Wir gingen dann in der Regel zur nächsten Bushaltestelle, um wieder in die Stadt zurückzufahren. Eines Tages ließen wir uns beim Ausziehen unserer „Dienstkleidung“ als Ministrant und Priester wohl etwas mehr Zeit als gewöhnlich, jedenfalls konnte ich sehen, dass die Särge überhaupt nicht in die Erde versenkt wurden, wie es bei Bestattungen sonst üblich war. Die Böden der Särge wurden geöffnet und klappten nach unten auf. Die Leichname fielen in die Gruben, offensichtlich waren sie nur in große Pappkartons gelegt! Die Särge wurden wieder auf den Pferdewagen gestellt, mit einer Plane bedeckt und in die Landesirrenanstalt zur Wiederverwendung zurückgebracht! Eine befriedi-gende Antwort, warum das so vor sich ging, habe ich damals als Kind nicht erhalten. Auch vom Pfarrer nicht, der mich sicher nicht unnötig belasten wollte. Mich hat das damals ganz schön beschäftigt. Es waren ja wahrlich unverhältnismäßig viele Sterbefälle unter den Katholiken in der Anstalt, wenn wir mehrere Verstorbene auf den Wagen hatten! Und da es weit mehr Protestanten als Katholiken in unserer Gegend gab und an anderen Tagen in der Landesirrenanstalt auch protestantische Beerdigungen stattfanden, mussten ja wohl noch wesentlich mehr Protestanten als Katholiken auf diese Weise zu Grabe gebracht werden! Erst nach dem Krieg habe ich erfahren, um welchen barbarischen Vorgang es sich handelte:

Die Nazis hatten ein „Euthanasie- Programm“ entwickelt, dessen Ziel es war, sogenanntes „lebensunwertes Leben“ auszulöschen. Diesem Todesprogramm fielen in Deutschland selbst, nicht etwa nur in den eroberten und besetzten Gebieten, Tausende von Menschen zum Opfer, die sich als mehr oder weniger psychisch gestörte oder physisch behinderte Patienten in den entsprechenden Anstalten befanden oder auch lediglich unter bloßen Vorwänden dort hingebracht wurden. Ja, ursprünglich war dieses „Programm“ nur für Deutsche im Interesse der „Reinhaltung“ der „arischen Rasse“ gedacht, erst später wurde es auf andere Nationalitäten ausgedehnt. Von September 1941 bis Kriegsende gab es die Praktik sogenannter ‚wilder Euthanasie‘ in verschiedenen Anstalten. Ärzte und Schwestern sonderten arbeitsunfähige und lästige Patienten aus, indem sie sie in der Regel mit einer Hungerdiät oder einer Überdosis Luminal oder ähnlichen Arzneimittel töteten. Mit der Beisetzung solcher Opfer der Euthanasie war ich damals also in der Landsberger Landesirrenanstalt in Berührung gekommen! Wie gesagt, ein schrecklicher Vorgang, der mir erst nach dem Krieg im Zusammenhang mit den Veröffentlichungen über die durchgeführten Kriegsverbrecherprozesse in seiner ganzen Tragweite bewusst geworden ist.

Pfarrer Dubianski mochte ich sehr. Er war bei aller Strenge immer ein gerechter und guter Mensch und hatte stets freundliche Worte und Scherze für uns Ministranten, sofern wir unserer Sache gut machten. Ein Freund der Nazis war er auf keinem Fall. Sicher hat er auch da und dort ein paar Worte gesprochen, die nicht im Sinne der Machthaber waren. Er stand schon längere Zeit unter Beobachtung durch die GESTAPO, der Geheimen Staatspolizei der Nazis. Relativ schnell kam es dann zur offenen Konfrontation. Gegen Ende des Jahres 1943 ließ sich der Pfarrer dazu hinreißen, in eine Predigt „unpassende“ Bemerkungen einzuflechten. Ich nehme an, dass er sich sehr wohl über das Risiko einer solchen Predigt im Klaren war. Die schlimme Folge war jedenfalls, dass seine Worte zum Anlass genommen wurden, ihn durch die GESTAPO am 16. Dezember 1943 verhaften zu lassen. Über einige Zwischenstationen kam er als unliebsamer Gegner der faschistischen Diktatur am 03. Juni 1944 in das berüchtigte Konzentrationslager Dachau, was für viele der dort eingelieferten Häftlinge einem Todesurteil gleichkam. Alle Geistlichen, die von den Nazis in Deutschland und in den verschiedenen eroberten europäischen Ländern verhaftet wurden, waren hier in einem separaten Teil des sogenannten „Schutzhaftlagers“ zusammengefasst, dem sogenannten „Priesterlager“, das selbst wieder nur ein Teil des großen Konzentrationslagers Dachau darstellte. Erst Ende April 1945, als das Kriegsende unmittelbar vor der Tür stand, wurden die noch im Lager befindlichen Häftlinge in Richtung Oberbayern evakuiert. Pfarrer Dubianski konnte unterwegs fliehen. Er ging kurze Zeit später nach Landsberg zurück und versuchte, seine Pfarrstelle wieder in Besitz zu nehmen. Nach der Inbesitznahme der Stadt durch die Polen wurde er aber selbst schließlich ausgewiesen.

Aus den Monaten Januar bis Juni 1945 sind einige weitere Eindrücke in meinem Gedächtnis verblieben, die im Zusammenhang mit den letzten Kriegsmonaten von allgemeinerem Interesse sein können. Im September 1944 kam ich in Landsberg mit Beginn der 5. Klasse in die „höhere Schule“. Ich wurde Schüler des „Hermann- Göring-Gymnasiums“!

Ich ging damals recht gern in die neue Schule. Es gab im Vergleich zur bisherigen Volksschule neue Fächer, auch der Sprachunterricht begann. Das Hermann-Göring-Gymnasium war ein Neubau, erst vor kurzem fertiggestellt, großzügig und modern angelegt und eingerichtet. Zur Schule gehörte eine große Aula mit einer Bühne, fast wie im Theater. Über der Bühne befand sich eine Darstellung des Panoramas von Landsberg, wie man es am Südufer der Warthe vor sich hat. Es handelte sich um ein hölzernes Kunstwerk, eine sicher sehr wertvolle Intarsienarbeit, die ich in den Stunden, die ich in dieser Aula war, immer sehr bewunderte. Der Künstler hatte darin den wohl schönsten Blick auf die Stadt festgehalten. Hier muss ich noch einmal Christa Wolf zitieren, die bei ihrem Landsberg- Besuch von 1971 jenseits der Warthe – also auf der Südseite – auf dem Uferdamm saß und danach zu ihrem Begleiter bemerkte: „Über das Panorama warst du selbst überrascht. Der Fluss, der gerade hier zu seinem großen Bogen ansetzt und sich nach Osten hin verbreitert, in Ufergestrüpp verliert. Und jenseits des Flusses die Himmelslinie der Stadt - Bahnbögen, Speicherhäuser, die Kirche, Wohnhäuser -, wie es heute am Kiosk als Postkarte verkauft wird... Ja. Das sei natürlich etwas. Das habe schon was. Eine Stadt am Fluss, damit ließe sich etwas anfangen, auch als Erinnerungsbild.“ Dieses Bild der Stadt in der Aula des Herman-Göring- Gymnasiums war lange die positivste Erinnerung, die ich von dieser Zeit im Gedächtnis behalten habe. Die wenigen Lehrer, an die ich mich noch erinnern kann, haben vor allen Dingen negative Eindrücke hinterlassen. Da war der Musiklehrer, der immer einen Rohrstock vor sich auf dem Tisch zu liegen hatte und bei jeder kleinen Gelegenheit ein paar scharfe Hiebe auf die ausgestreckten Finger schlug. Auch ich habe mehrfach die Hände vorstrecken und seine Schläge aushalten müssen, ich weiß nicht mehr, warum eigentlich. Wehe, man zeigte, dass es schmerzte - dann gab es unweigerlich ein paar Hiebe mehr! „Hart wie Kruppstahl, zäh wie Leder, flink wie Windhunde“ - so sollte doch nach offizieller nazistischer Vorstellung gerade in diesen Kriegsjahren der deutsche Junge sein! Ebenso eingestellt war auch der Sportlehrer, der uns wie Rekruten beim Exerzieren über den Sportplatz scheuchte, aber ich war alles andere als sportlich!

Mit dem Eintritt in das Gymnasium kam auch der Zeitpunkt, wo ich zum „Jungvolk“, zu den „Pimpfen“ musste, also zur Kinderorganisation der Hitler- Jugend. Mutter war nicht dafür, dass ich in diese faschistische Jugendorganisation eintreten sollte. Aber es war überhaupt nicht zu verhindern. Eine Ablehnung, zum Jungvolk zu gehen, hätte mit Sicherheit auch die Ablehnung der Zulassung zum Gymnasium bedeutet und eventuell weitere Schwierigkeiten hervorrufen können. Nach Beratung mit verschiedenen Bekannten kaufte Mutter mir dann die notwendige „Kluft“, die beim Jungvolk getragen wurde. Es war aber schon das letzte Kriegsjahr angebrochen, so dass ich nicht mehr oft zum „Dienst“ musste. Antreten, Marschieren üben, ein paar Lieder lernen, an wenigen großen Appellen teilnehmen und ein- oder zweimal in den Wepritzer Bergen „Geländespiele“ mitmachen, das waren die Aktivitäten, an denen ich noch teilnahm. An politische und ideologische Dinge, die dabei sicher auch gesagt wurden, besonders in den Ansprachen der jeweiligen „Führer“, hatte ich schon sehr bald überhaupt keine Erinnerung. Vor allem erschien mir das alles ein wenig fremd, auch irgendwie beängstigend. Es war so ganz anders, als ich es aus der Ministrantengruppe in der Kirche oder auch von zu Hause aus gewöhnt war. Ich war nicht für die grobe, kriegerische Art zu haben, und so konnte ich am Dienst im Jungvolk auch keinen Gefallen finden. Auch im späteren Leben war ich nicht auf das Militärische erpicht!

Immer unmittelbarer kam in den letzten Monaten des Jahres 1944 der Krieg nach Landsberg, er machte sich ständig stärker bemerkbar. Es kamen viele Tage, an dem die Sirenen heulten und „Fliegeralarm“ gegeben wurde. Große Pulks anglo-amerikanischer Luftverbände flogen von Norden, von der Ostsee her, bis über Landsberg. Hier drehten sie nach Westen ab, um vor allen Dingen Berlin zu bombardieren. Nur selten wurden sie in unserem Raum von der deutschen Fliegerabwehr beschossen. Sie flogen viel zu hoch, in großen Mengen und mit vielen Jagdflugzeugen als Geleitschutz, so dass auch hier die deutsche Luftwaffe sicherheitshalber keinen Angriff flog. Auch die Bombenlast der Flugzeuge ging nicht auf Landsberg nieder. Am Tage gingen die Menschen bei „Luftwarnungen“, die über das Radio vom Ortssender zu empfangen waren, sowie beim eigentlichen Fliegeralarm kaum in die überall vorhandenen Luftschutzkeller. Lediglich in der Nacht wurde durch die „Luftschutzwarte“ der Straßen und Häuser auf die absolute Verdunkelung der Fenster und darauf geachtet, dass die Hausbewohner bei Alarm auch tatsächlich in die Keller gingen. Nach meiner Erinnerung sind in all diesen Monaten nur zweimal ganz wenige Bomben auf Landsberg gefallen, die aber fast keinen Schaden anrichteten und wahrscheinlich mehr aus Zufall oder Versehen als mit gezielter Absicht abgeworfen wurden. Aber die Explosionen dieser Bomben jagten uns doch einen beträchtlichen Schrecken ein. Glücklicherweise blieb die Stadt also von eigentlichen Luftangriffen verschont, selbst die Rüstungsbetriebe der IGFarben- Werke am Stadtrand wurden in dieser Zeit nicht angegriffen, wahrscheinlich mit Absicht verschont. Vielleicht wurde hier von den Kriegsgegnern nach dem Spruch gehandelt: „Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus!“ Waren doch schließlich amerikanische Firmen an den IG-Farben und anderen Rüstungsbetrieben in Deutschland finanziell beteiligt, sie verdienten an der deutschen Rüstung wie umgekehrt deutsche Aktionäre an der anglo-amerikanischen Rüstung. Sie waren natürlich nicht daran interessiert, ihr eigenes Kapital unnötig zu zerstören, so lange sie Aussicht hatten, es wieder ganz in ihre Finger zu bekommen! Immer mehr Flüchtlinge strömten aus den Gebieten im Osten in die Stadt und zogen zumeist nach Westen weiter. Große Viehherden, vor allen Dingen Kühe, wurden von Osten her durch die Stadt getrieben. Gruppen Verwundeter kamen von der Ostfront und wurden in schnell eingerichteten Lazaretten untergebracht. Ende des Jahres 1944 wurde ein solches Lazarett auch im Hermann-Göring-Gymnasium geschaffen. Der Schulbetrieb wurde eingestellt. Damit war bereits nach wenigen Monaten meine Gymnasialzeit auch schon wieder beendet. Ich habe keinen unmittelbarten Beleg über diese Periode. Die Ereignisse spitzten sich in wenigen Wochen mit großer Schnelligkeit zu. Der von Deutschland ausgegangene Krieg kam zu den Deutschen selbst zurück und erreichte auch Landsberg a. d. Warthe! Mitte Januar 1945 setzten die sowjetischen und die mit ihr kämpfenden polnischen Einheiten zum weiteren Vorstoß gegen die deutschen Truppen an. Die sowjetische 1. Belorussische Front unter dem Oberbefehl von Marschall G. K. Shukow führte seit dem 14. Januar 1945 mit der «Weichsel-Oder-Operation» eine Offensive in Richtung Westen, die vom englischen Premier Winston Churchill als Entlastung der Westfront von Stalin gewünscht wurde. Die letzten nennenswerten Verteidigungslinien der Deutschen im Großraum um Landsberg konnten diesen Angriffen nicht standhalten. Der von der Nazi-Propaganda so gelobte Ostwall erwies sich als ein ziemlich kläglicher Versuch, die Front zu stabilisieren. Im Osten von Landsberg wurde der sogenannte „Wartheriegel“ in der zweiten Januarhälfte durchbrochen. Die Verteidigungsstellungen im „Oder-Warthe-Bogen“ südlich und südwestlich der Stadt erwiesen sich mit Ausnahme einiger Abschnitte an der Oder als ebenso durchlässig. Die „Pommern-Linie“ von Neustettin über Deutsch-Krone bis Landsberg konnte nur in ihrem nördlichen Teil noch einige Wochen gehalten werden. In der dritten Etappe dieser Offensive, vom 25. Januar bis 3. Februar 1945, erfolgte der Durchbruch der sowjetischen Truppen durch die befestigten deutschen Grenzbezirke bis zur Oder. Es war die 5. Stoßarmee dieser Front, unter dem Befehl von General N. E. Bersarin, die Landsberg im Norden umging und zum Ende des Monats zügig bis an die Oder nördlich von Küstrin (heute Kostrzyn) vorstieß. Dass sich die sowjetischen Truppen näherten, war uns zumindest in der letzten Januarwoche bewusst, nur, wie schnell sich die Frontlinie tatsächlich voranschob, ahnten wir nicht. Am 29. Januar abends sprach der örtliche Führer der „Kreisleiter“ der NSDAP, über den Ortssender und rief mit Durchhalte-parolen dazu auf, die Stadt - wie es der „Führer und Reichskanzler Adolf Hitler“ wollte - „bis zum Letzten“ zu verteidigen. Wovon wir nichts wussten, während wir diese Ansprache hörten, dass vor der Nazidienststelle bereits die Autos standen, mit denen sich die örtlichen Größen von Partei und Staat unmittelbar danach in Richtung Westen absetzten. Wir wachten in der folgenden Nacht zum 30. Januar vom Lärm von Panzergefechten auf, die sich nördlich von Landsberg beim Vorstoß der 5. Stoßarmee der 1. Belorussischen Front abspielten. Ich weiß nicht, ob mich Mutter nur beruhigen wollte, oder ob sie selbst noch daran glaubte, jedenfalls war sie der Annahme, dass es sich wohl um eine „Nachtübung“ handeln würde. Sie hatte von Anfang an nicht die Absicht, die Stadt zu verlassen. Wo sollten wir auch hin? Verwandte jenseits der Oder hatten wir nicht viele, nur in Berlin, aber ob die nicht auch schon längst „ausgebombt“ und/oder „evakuiert“ waren, wussten wir nicht. So erklärte Mutter ihr Vorhaben, in Landsberg zu bleiben, auch ihrer Schwägerin, meiner Tante Martha, die am 30. Januar in aller Frühe an unsere Wohnungstür klopfte. Sie war sehr aufgeregt und ängstlich, sie wollte unbedingt mit ihren Kindern Norbert und Ursula flüchten, hätte uns aber gern zur Unterstützung und gegenseitigen Hilfe dabeigehabt. Um den Weg in der Eile abzukürzen, war sie von der Südstadt her über das Eis der in diesem Jahr Ende Januar fest zugefrorenen Warthe gelaufen, um uns zur gemeinsamen Flucht zu veranlassen. Aber Mutter wollte mit mir auf jeden Fall zu Hause in Landsberg bleiben und sich nicht auf eine ungewisse Flucht begeben. Tante Martha, die diese Haltung absolut nicht teilte, hat es dann tatsächlich noch geschafft, mit ihren Kindern Ursula und Norbert in einen völlig überfüllten Zug hineinzukommen und die Stadt zu verlassen.

In jenen Stunden muss sich auch ein für unsere Familie tragisches Ereignis abgespielt haben. Im letzten Zug befand sich meine Großmutter väterlicher-seits. Sie war von einem ihrer Kinder in den Zug gesetzt worden. Über Jahrzehnte wusste niemand in unserer Verwandtschaft, was danach eigentlich passiert war. Fest steht lediglich, dass meine Großmutter niemals in Berlin oder anderswo ankam! Erst vor wenigen Jahren habe ich den Hinweis gefunden, dass ein Flüchtlingszug am 30. Januar kurz hinter Landsberg gehalten habe und die Leute aussteigen mussten. Nun scheint der Vorgang aufgeklärt zu sein. Ein Landsberger, damals 14 Jahre alt, berichtet über die Flucht seiner Familie aus der Stadt. Er schreibt im „Heimatblatt“ Nr. 49 u. a.: Ein bekannter Eisenbahner „gab uns den Hinweis, dass auf dem Güterbahnhof bei den Lockschuppen Eisenbahner damit beschäftigt seien, die noch in Landsberg vorhandenen Lokomotiven vor den Russen in Sicherheit zu bringen. Wir machten uns also mit Hilfe der Großmutter auf den Weg dorthin. Dort fanden wir fünf Lokomotiven vor, die zu einem Konvoi zusammengestellt waren und zur Abfahrt vorbereitet wurden…. Der 30. Januar 1945 war ein kalter klarer Wintertag. Der Vollmond war vor wenigen Tagen vorüber und tauchte die verschneite Umgebung noch in ein helles diffuses Licht. So sahen wir schon von weitem einen Truppe bewaffneter, mit weißen Umhängen bekleideter Soldaten heranlaufen. Zuerst dachten wir alle es wären schon die Russen, aber es stellte sich schnell heraus, dass es sich um das Sprengkommando der Brücken handelte, die eine Mitfahrt erzwangen … Nach langem Warten setzte sich dann endlich unser Konvoi in Bewegung. Wie ich erst nach dem Tode meines Vaters in seinem damals geführten Notizbuch fand, war es abends um 22 Uhr. Aber unsere Fahrt währte nicht lange. Schon kurz hinter Wepritz mussten wir wieder anhalten. Vor uns hatte sich ein Eisenbahnunglück ereignet. Ein Reichsbahnbetriebszug war auf den letzten Flüchtlingszug aus Landsberg aufgefahren. Es hatte viele Tote und Verletzte gegeben. Wir Kinder wurden aber so gut abgeschirmt, dass wir erst viel später über den wahren Umfang des Unglücks unterrichtet wurden. Mir ist nur ein zum Teil noch brennender Personenzugwagen in Erinnerung, der bei unserer Weiterfahrt neben dem Bahndamm lag.“ Zu den Toten dieses Zugunglücks gehörte mit großer Wahrscheinlichkeit meine Großmutter! So ist sie in den Stunden ihrer Flucht noch selbst ein Opfer des Krieges geworden.

Joachim Gasiecki
Paul-Abraham-Weg 3
17033 Neubrandenburg

(Fortsetzung folgt im nächsten Heft)


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Erstellt am 27.08.2016 - Letzte Änderung am 27.08.2016.