Kinderjahre in Landsberg/Warthe (Teil 1)
Am 16. 05. 1934 wurde ich
in Landsberg/Warthe als
Kind einer Arbeiterfamilie geboren.
Mein Vater verstarb bereits
1938. Nach seinem Tode
lebte meine Mutter mit meinem
13 Jahre älteren Bruder und
mir in einer Mietwohnung in
einem Hinterhaus der Küstriner
Straße 85.
Leicht hatte es meine Mutter
mit ihren beiden Kindern sicher
nicht. Sie bekam nur eine
kleine Hinterbliebenenrente
von ihrem Mann. Die Rente
war aber - entsprechend dem
früheren Verdienst und infolge
der längeren Arbeitslosigkeit
und Krankheit von Vater - viel
zu klein, um allein davon leben
zu können. So musste Mutter
sich verstärkt nach Arbeit umsehen.
Sie ging zur „Aufwarte“
bei verschiedenen begüterten
Familien, als billige Reinigungskraft
und Haushalts-hilfe.
In einer Landsberger Schule,
wo die Familie Kuhrt, die Mutti
aus der katholischen Kirchengemeinde
kannte, eine Hausmeisterstelle
hatte, konnte sie
ein paar Stunden in der Woche
gegen ein bescheidenes
Entgelt bei der Schulreinigung
helfen. Sie hat das jahrelang
bis 1945 getan. Längere Zeit
fuhr sie in der Brückenvorstadt
Zeitungen aus, hauptsächlich
den lokalen „Landsberger
General-Anzeiger“. Außerdem
nähte sie auf ihrer Nähmaschine,
die gleich zu Beginn ihrer
Ehezeit angeschafft worden
war. Auch das brachte etwas
Geld ein. Schließlich ging es in
den Sommermonaten mit dem
Fahrrad - ich vorn im Körbchen
- in den Wald, um Blaubeeren,
Preiselbeeren und Pilze
zu suchen, die es damals in
der Umgebung der Stadt reichlich
gab. natürlich auch für
den eigenen Verbrauch, aber
hauptsächlich für den Verkauf.
Alfons, mein großer Bruder,
war schon 1937 nach der 8.
Klasse bei einem bekannten
Landsberger Lebensmittelund
Delikatessengeschäft als
Kaufmannslehrling angenommen
worden. Er war nun nach
dem Tode von Vater bereits im
zweiten Lehrjahr und bekam
ein paar Mark Lehrlingsentgelt
für seine Tätigkeit im Geschäft.
Die Familie konnte insgesamt
mit ihren Einnahmen wahrlich
keine großen Sprünge machen.
Wir hatten aber auch
keine überzogenen Ansprüche,
so dass wir alles in allem
ganz ordentlich leben konnten.
Aber vieles war auch schön
in diesen Jahren. An den Wochenenden
und in den Schulferien
fuhren wir, wie schon
erwähnt, in den Sommer- und
Herbstmonaten häufig in den
Wald, eben um Beeren oder
Pilze oder beides zu holen –
schön war es im Wald immer.
Manchmal fuhren wir auch
nach Zanzin zur Großmutter.
Dort konnte man herrlich draußen
spielen, anders als auf der
Straße in der Stadt. Irgendein
Onkel hatte eine Schaukel
gebaut, so dass ich auch nach
Herzenslust schaukeln konnte.
Auch in Hammelbrück, wo
Verwandte wohnten, waren
wir mehrfach. Da gab es einen
Bach, in dem man zeitweise
eine Unmenge von Krebsen
finden konnte. Das Krebsefangen
war eine interessante
Sache: man musste abends,
mit der Taschenlampe in der
Hand, die im Bach liegenden
Steine umdrehen, unter denen
sich in der Regel die Tiere befanden,
um dann mit der Hand
die Krebse zu greifen und in
den mitgebrachten Eimer zu
werfen. Das war gar nicht so
leicht, manchmal ziemlich aufregend
– man wollte ja nicht
mit den Scheren der Krebse
Bekanntschaft machen – aber
es machte großen Spaß.
Einige meiner noch vorhandenen
Erinnerungen sind mit verschiedenen
Ecken der Stadt
und mehreren meiner Spielplätze
verbunden.
Beliebter „Buddelplatz“ war
der Schulberg, wenige hundert
Meter von unserer Wohnung
entfernt, eine kleine schattige
Parkfläche, etwas erhöht in der
Gabelung zweier Straßen gelegen.
Die einzige Erinnerung
an meinen Vater bezieht sich
auf diesen Ort, an dem er öfter
mit mir zum Spielen gegangen
ist. Gleich daneben stand die
Volksschule (Pestalozzischule),
die ich bis zum Ende der
4.
Klasse besuchte. Ihr Schulhof
war nachmittags unser
Platz für Ballspiele, zum Beispiel
für den beliebten „Völkerball“.
Ein Stückchen weiter lag
der Landsberger Schlachthof,
zu dem ein großes eingezäuntes Gelände gehörte, wohin
das angelieferte Vieh zunächst
getrieben wurde und auf dem
auch der Viehmarkt stattfand.
In einer Ecke standen einige
alte ausrangierte Möbelwagen.
Obwohl wir eigentlich den
Platz nicht betreten durften,
kamen wir immer irgendwie
durch den vorhandenen Zaun.
In den alten Wagen ließen sich
herrliche Buden und Verstecke
bauen, von denen aus man
das ganze Gelände ungesehen
beobachten konnte. Nur
erwischen lassen durfte man
sich nicht. Aber das passierte
uns Kindern auch nicht, wir
konnten immer rechtzeitig ausreißen,
wenn ein Wächter in
die Nähe kam.
Manchmal ging ich mit meinem
Bruder Alfons an die
Warthe zum Angeln. Für meine
Begriffe war die Warthe
schon ein recht großer Fluss
– ich kannte ja auch keinen
anderen! Wir saßen auf den
Buhnen, betrachteten die Lastkähne,
die den Fluss in beiden
Richtungen befuhren, sowie
die großen Flöße aus Baumstämmen,
die flussabwärts
„geflößt“ wurden, und warteten
darauf, dass ein Fisch anbiss.
Manchmal fingen wir ganz
ordentliche Exemplare, die für
eine Mahlzeit ausreichten, ein
andermal waren die Fische
aber auch so klein, dass sie
wieder in das Wasser geworfen
wurden. Eines schönen
Tages verlor mein Bruder,
der mit seiner Angel in einem
seitwärts an der Buhne festgemachten
Kahn stand, das
Gleichgewicht und fiel in die
Warthe! Nass wie ein begossener
Pudel musste er durch
die Straßen nach Hause laufen,
zur Belustigung der Leute.
Auch so etwas konnte man
also beim Angeln erleben!
Ein anderer Platz wurde zumeist
nur im Winter besucht,
obwohl es sich um einen Ort
handelte, der zu jeder Jahreszeit
zum Herumtoben bestens
geeignet war. Ging man gleich
hinter der Schule gegenüber
unserem Haus die Soldiner
Straße weiter in Richtung
Nordwesten stadtauswärts in
Richtung des „Galgenberges“,
dem wohl höchsten Punkt an
dieser Straße, dann gelangte
man an den Rand der „Wepritzer
Berge“ in die sogenannte
„Schlucht“, in einen recht langen
Geländeeinschnitt, der
sich von den Höhen an der
Soldiner Straße bis an die südwärts
schon in der Wartheniederung
gelegene Ausfallstraße
nach Küstrin – die berühmte
„Reichsstraße Nr. 1“ – hinzog.
Das ergab im Winter eine lange
ideale Rodelstrecke. Bei
ausreichendem Schnee - und
den gab es in jenen Jahren
wohl praktisch in jedem Winter
- waren wir Kinder der ganzen
Umgebung genauso wie viele
Erwachsene in dieser Schlucht
zum Schlittenfahren. Ich kann
mich noch sehr gut daran erinnern,
wie wir hier mit unseren
Schlitten herumtobten. Manchmal
bis zum Dunkelwerden,
was dann meistens zu Hause
wegen der späten Rückkehr
für Ärger sorgte.
Etwa in halber Höhe der Soldiner
Straße gab es stadtauswärts
auf der rechten Seite
den „Sonnenplatz“ mit der hier
beginnenden und im Volksmund
so benannten „Gelben
Gefahr“! Hier standen die
„Plesserschen Häuser“ und
die Häuser der GEWOBA,
einer gemeinnützigen
Wohnungsgesellschaft,
deren Bewohner sich
untereinander nicht mochten
Von dieser Gegend und ihren
gelbgestrichenen Häusern
– daher der Name „Gelbe
Gefahr“! – hielt man sich
lieber fern. Man war da nicht
gern gesehen. Eigenartig ist,
dass ich als Kind an jenem
Ort die gleichen Eindrücke
und Gefühle hatte, von denen
auch die Schriftstellerin Christa
Wolf berichtet, als sie nach
sechsundzwanzig Jahren ihre
Geburtsstadt wieder besuchte,
obwohl sie doch aus einem
ganz anderen Milieu als ich
stammte, ich aus einer mehr
kleinbürgerlichen Umgebung.
Sie schreibt in ihrem Buch
„Kindheitsmuster“ darüber:
„Das unregelmäßige Ziegelsteinpflaster...,
Pfad im
grundlosen Sand des Sonnenplatzes.
Das Spätnachmittagslicht,
das von rechts her in die
Straße einfällt und von den
gelblichen Fassaden der Pflesserschen
Häuser zurückprallt.
... Mag sein, der Platz war
auch früher schon ein bißchen
schäbig. Stadtrand eben.
Zweistöckige Wohnblocks der
GEWOBA (... Gemeinnützige
Wohnungs-baugenossenschaft...),
Anfang der dreißiger
Jahre in den weißen Flugsand
der Endmoräne gesetzt, die
die Wepritzer Berge, geologisch
gesehen, darstellten...,
die - mögen sie heute heißen,
wie sie wollen - als riesiges
Quadrat von zweihundert Meter
Seitenlänge einen sehr großen
Innenhof umschließen...
Wie einst ... galt das Verbot,
einen dieser Torbögen zu
durchschreiten, einen dieser
Höfe zu betreten. Dass kein
GEWOBA-Kind seinen Fuß
ungestraft auf Pflesserschen
Grund setzte, war ein für allemal
ausgemacht durch ein
ungeschriebenes Gesetz, das
keiner verstand aber jeder einhielt.“
Die Scheu, sich jenen Häusern
und Höfen zu nähern,
betraf nicht nur die Kinder
der beiden sich befehdenden
Wohnanlagen um den Sonnenplatz.
Selbst wir Kinder aus einer Gegend, die doch
ein beträchtliches Stück davon
entfernt lag, hatten überhaupt
kein Verlangen, uns dieser
„Gelben Gefahr“ zu nähern,
weder den Plesserschen
Häusern noch den Häusern
der Wohnungsgesellschaft.
Wir achteten immer darauf,
dass wir möglichst schnell
daran vorbeikamen. Aber was
steckte eigentlich hinter einer
solchen Haltung? Hier am
Sonnenplatz wohnten vor allen
Dingen arme Arbeiterfamilien,
häufig mit linker politischer
Einstellung. Ihrer sozialen
Lage nach waren sie in der
gleichen Situation wie wir arme
Leute aus den Hinterhäusern
an der Küstriner Straße - und
trotzdem gab es eine Barriere,
die in der mündlichen Überlieferung
weitergegeben wurde
und zu solch einer seltsamen
„Kontaktsperre“ führte. Wahrscheinlich
wirkten hier nicht
nur bürgerliche und kleinbürgerliche
Vorbehalte gegen die
„Linken“, sondern auch in Proletarierkreisen
selbst - auch in
unserer Familie - bewusst oder
unbewusst die konservative
religiöse Grundhaltung und
Erziehung, die dazu führte,
dass wir uns von Atheisten, die
„linke Leute“ nun einmal in der
Regel waren, mehr oder weniger
fernhielten.
Auch an meine ersten Theaterbesuche
kann ich mich
ein wenig erinnern. Es muss
schon in den vierziger Jahren
gewesen sein, als ich zweioder
dreimal das jeweilige
Weihnachtsmärchen im Landsberger
Stadttheater besuchen
durfte. Dazu gehörten zum
Beispiel die Oper „Hänsel und
Gretel“ von Humperdinck und
auch „Hanneles Himmelfahrt“,
ein damals häufig gespieltes
Theaterstück für Kinder von
Gerhard Hauptmann.
Soweit ein paar Erinnerungen,
die auf eine gänzlich
unbeschwerte Kinderzeit zu
verweisen scheinen. Aber die
Lebensumstände in den Jahren,
von denen hier erzählt
wird, wurden zunehmend
schwieriger. Dazu gehörte der
Machtantritt der Nationalsozialisten
Anfang der dreißiger
Jahre, ebenso die Tatsache,
dass auch mein Vater diesen
Demagogen zunächst auf
den Leim gegangen war, in
der Hoffnung auf Arbeit und
ein besseres Leben, ohne
zu erkennen, dass der Weg
der Nazis in die Katastrophe
führte. Ein knappes Jahr nach
seinem Tod war bereits Krieg!
Am 1. September 1939 hatte
mit dem deutschen Überfall
auf das benachbarte Polen
der zweite Weltkrieg begonnen,
der auch entscheidend in
unser Leben eingreifen sollte.
Äußerlich veränderte sich zunächst
nur wenig. Meine Mutter
war im großen und ganzen
unpolitisch, obwohl sie sich um
die Zukunft Sorgen machte.
Sie war aber prinzipiell schon
deswegen gegen die Nazis,
weil deren Anhänger es geschafft
hatten, Vater zur SA zu
holen. Ich war zunächst noch
zu klein, um zu verstehen, was
da eigentlich in Deutschland
und in der Welt vor sich ging.
Aber vieles von dem, was
nun geschah und in meiner
Erinnerung haften geblieben
ist, hat in irgendeiner Weise
mit dieser Zeit in Deutschland
und dem Krieg und seinen
mittelbaren oder unmittelbaren
Folgen zu tun. Davon soll nun
so ausführlich, wie ich es nach
meinen Erinnerungen vermag,
erzählt werden.
Die Monate vor und nach dem
Kriegsbeginn am 1. September
1939 waren für uns Kinder
an der Küstriner Straße recht
interessante Zeiten. Nicht nur
auf dem Bahnweg der „Ostbahn“,
sondern auch auf der
Durchgangsstraße von Berlin
über Küstrin nach Schneidemühl,
einem Teilstück der großen
„Reichsstraße 1“ von Aachen
nach Königsberg, fuhren
lange Truppentransporte nach
Osten. Da gab es eine Menge
zu beobachten. So viele Soldaten
mit ihren Fahrzeugen
und Kriegsgeräten verschiedener
Art hatte ich bis dahin noch
nicht gesehen, obwohl es zwei
große Kasernen in Landsberg
gab. Mehr war vom Krieg aber
auch zunächst nicht unmittelbar
zu verspüren, bis auf ein
schlimmes Ereignis als Folge
des deutschen Überfalls auf
Polen: da meine Großeltern
mütterlichereseits und eine
Reihe der Geschwister meiner
Mutter nach dem ersten Weltkrieg
nicht für Deutschland optiert
hatten, also der Nationalität
nach Polen waren und im
polnischen Raum lebten, nun
dort der Krieg und deutsche
Besatzungsmacht herrschten,
schließlich aus den eroberten
polnischen Gebieten ein
deutsches „Generalgouvernement“
und der „Reichgau
Wartheland“ entstand, brach
für längere Zeit jeder Kontakt
zu diesen Verwandten ab. Das
war für Mutti sehr traurig, und
ich weiß, dass sie immer wieder
erneut Briefe geschrieben
und gehofft hat, dass sie ihre
Adressaten erreichen mögen
und Lebenszeichen von ihren
Eltern und Geschwistern kommen
würden. Aber das war
eben nicht der Fall, die Ungewissheit,
ob sie überhaupt
noch am Leben waren, blieb.
Erst nach dem Krieg haben wir
erfahren, dass sie weiter nach
Osten deportiert wurden.
Seit Ostern dieses Jahres
1940 ging ich in die Pestalozzischule
gleich unserer
Wohnung schräg gegenüber.
Es war meines Wissens der letzte Schülerjahrgang, der das Schuljahr zu Ostern begonnen
hat. Im folgenden Jahr
wurde der Schuljahresbeginn
nach den Sommerferien des
jeweiligen Jahres eingeführt.
Mein Jahrgang war auch der
letzte, der in der Schule noch
nach der alten deutschen
Schulschrift, der „Sütterlin-
Schrift“, das Schreiben erlernte,
so dass ich auf die neu
eingeführte lateinische Schrift
„umlernen“ musste, was aber
wohl keine großen Umstände
machte, höchstens, dass meine
Schrift immer schlechter
wurde!
Nun schien für Mutti auch die
Zeit gekommen zu sein, zu
der ich näher und enger an
die katholische Kirche herangeführt
werden sollte. Unsere
Mutter war eine fromme
Christin, die ihren katholischen
Glauben sehr ernst nahm. Sie
war aber weder eine Heuchlerin,
die nur der Umwelt und
der Tradition zuliebe religiös
erschien, noch eine frömmelnde
Betschwester, sondern sie
war von der Richtigkeit der
katholischen Glaubenslehre
ehrlich überzeugt und nahm
sie als eine Richtschnur für
ihr Leben. Daraus hat sie von
ihren Jugendjahren an bis an
ihr Lebensende immer wieder
Kraft geschöpft, um mit ihrem
manchmal doch sehr schweren
Leben fertigzuwerden.
Natürlich wurde ich ebenfalls
im katholischen Glauben erzogen.
Es war für mich ganz
normal, dass wir an Sonn- und
Feiertagen regelmäßig in die
Kirche gingen, zumeist zur eindrucksvollen
Zehn-Uhr-Messe,
zum feierlichen „Hochamt“ in
die katholische Heilig-Kreuz-
Kirche. Die Kirche war mir
also kein ungewohnter Raum.
Nun aber sollte ich „Ministrant“
werden, ein Messdiener
also, der bei den religiösen
Zeremonien in der katholischen
Kirche eine Art Gehilfe
des Priesters ist. Bisher hatte
ich die Ministranten am Altar
immer nur von weitem in der
Kirche beobachten können,
nun sollte ich selbst zu ihnen
gehören. Selbstverständlich
musste man erst lernen, den
Dienst am Altar fehlerfrei auszuführen.
Das war durchaus
nicht so einfach. Ich kam Ende
1940/Anfang 1941 zu Pfarrer
Paul Dubianski, einem jüngeren
Priester vom Geburtsjahrgang
1906, der Ende Mai 1940
nach Landsberg kam und in
der katholischen Gemeinde
der „Heilig-Kreuz-Kirche“ sehr
beliebt wurde, „in die Lehre“.
Pfarrer Dubianski führte mit
uns neuen Ministranten so
manche Übungsstunde durch
und dirigierte uns schließlich
bei den ersten Einsätzen im
Messdienst am Altar oftmals
leise mit kleinen Kommandos
und Hinweisen, bis wir es
endlich gelernt hatten, das
Zeremoniell einwandfrei und
dem jeweiligen Anlass entsprechend
zu bewältigen. Und
unterschiedliche Anlässe gab
es zur Genüge. Ein Satz von
Pfarrer Dubianski gegenüber
seinen Ministranten lautete
immer wieder: „Und wenn es
Kindsköpfe hagelt - ihr habt
pünktlich zu sein!“ Mir machte
diese Tätigkeit Spaß. Obwohl
es zuerst gar nicht so erwartet
werden konnte, kam ich
gerade durch meine Ministrantentätigkeit
mit den Kriegsereignissen
und den inneren
Vorgängen in Nazideutschland
in mehr oder weniger direkte
Beziehung. An die folgenden
Umstände und Ereignisse
kann ich mich besonders erinnern.
Da ergab sich zum Beispiel
der Einblick in Gefangenenund
Zwangsarbeiterlager,
den damals sicher nur recht
wenige Menschen haben
konnten, sofern sie nicht selbst
in der Nähe solcher Lager
arbeiteten oder sogar darin
ihren Dienst versahen. Am
nordöstlichen Stadtrand von
Landsberg, östlich der Friedeberger
Chaussee, hatten die
IG-Farben, einer der größten
Chemie- und Rüstungskonzerne
Deutschlands und als
Kriegsverbrecher nach 1945
von einem Internationalen Tribunal
gebrandmarkt und verurteilt,
ein großes Werk errichtet.
Hier lebten in Barackenlagern
viele zur Arbeit in Deutschland
zwangsverpflichtete Menschen
aus den inzwischen von den
deutschen Truppen besetzten
Ländern, vor allem aus Osteuropa.
Hier arbeiteten auch
Kriegsgefangene, die in einem
besonderen Lagerteil untergebracht
waren. Von Zeit zu Zeit
durften in den Unterkünften
Gottesdienste veranstaltet
werden. Pfarrer Dubianski
nahm mich als Ministrant
mehrfach mit in die Lager beim
IG-Farben-Werk. Ich weiß
noch ganz genau, wie mich
die ganze Atmosphäre beeindruckt
hat. Unmittelbaren Kontakt
hatte ich aber zu diesen
Menschen nicht, weder zu den
Zwangsarbeitern noch gar zu
Kriegsgefangenen. Gespräche
durften wir nicht führen. Auch
wenn ich die Kriegssituation
insgesamt und die Lage der
Menschen in den Lagern wohl
kaum richtig verstand, waren
es für mich immer ernste Stunden
auf dem Lagergelände der
IG-Farben.
Ein zweiter Vorgang ist seinem
Wesen nach sicher noch viel
tragischer gewesen, obwohl
ich auch hier erst später begriffen
habe, worum es sich
dabei überhaupt handelte.
Etwa 1942 habe ich Pfarrer
Dubianski öfter zu Beerdigungen
begleiten müssen, die von der „Brandenburgischen Heil- und Pflegeanstalt“, im
allgemeinen Sprachgebrauch
kurz als Landesirrenanstalt
bezeichnet, ausgingen. Diese
Einrichtung befand sich
ebenfalls an der Friedeberger
Chaussee. Wir fuhren mit dem
„Trolleybus“, einem damals
modernen elektrischen Oberleitungsbus,
bis zur Anstalt.
Dort angekommen, zogen wir
unsere Gewänder an, bei kaltem
Wetter auch manchmal
gleich über den Mantel oder
die Jacke. Nun sind Sterbefälle
in einer Heil- und Pflegeanstalt
ja nicht ungewöhnlich.
Aber diese Beerdigungen
waren eigenartig. Es gab hier
keine Trauerfeiern, wie sie
sonst vor Beisetzungen in der
Kirche oder Friedhofskapelle
üblich waren. Auch Angehörige
waren niemals anwesend,
was mich sehr verwunderte,
denn von den Beerdigungen
auf dem katholischen Friedhof,
an denen ich sonst teilnahm,
war ich immer eine zumeist
größere Anzahl von Trauergästen
gewöhnt. Hier gab es
keine trauernden Angehörigen!
Auf uns wartete bereits ein
Pferdewagen, auf dem jeweils
mehrere Särge standen. Der
Pferdewagen fuhr auf der
Friedeberger Chaussee weiter
stadt-auswärts bis zu einem
kleinen Friedhof, der abseits
der Straße lag. Pfarrer Dubianski
folgte dem Wagen zu
Fuß. Ich ging als Ministrant mit
einem Holzkreuz, das zu Beerdigungen
immer mitgeführt
wurde, noch vor ihm, gleich
hinter dem Gefährt. Auf dem
Friedhof wurden die Särge
auf Stangen über die schon
vorbereiteten Gräber gestellt.
Der Pfarrer sprach seine Gebete
und besprengte die Särge
mit Weihwasser. Damit war
unsere Aufgabe auch schon
erledigt. Ich weiß noch, dass
ich Pfarrer Dubianski gefragt
habe, was das denn für Verstorbene
seien, aber ich habe
damals nur eine ausweichende
Antwort bekommen. Wir
gingen dann in der Regel zur
nächsten Bushaltestelle, um
wieder in die Stadt zurückzufahren.
Eines Tages ließen wir
uns beim Ausziehen unserer
„Dienstkleidung“ als Ministrant
und Priester wohl etwas mehr
Zeit als gewöhnlich, jedenfalls
konnte ich sehen, dass die
Särge überhaupt nicht in die
Erde versenkt wurden, wie es
bei Bestattungen sonst üblich
war. Die Böden der Särge
wurden geöffnet und klappten
nach unten auf. Die Leichname
fielen in die Gruben,
offensichtlich waren sie nur
in große Pappkartons gelegt!
Die Särge wurden wieder auf
den Pferdewagen gestellt,
mit einer Plane bedeckt und
in die Landesirrenanstalt zur
Wiederverwendung zurückgebracht!
Eine befriedi-gende
Antwort, warum das so vor
sich ging, habe ich damals als
Kind nicht erhalten. Auch vom
Pfarrer nicht, der mich sicher
nicht unnötig belasten wollte.
Mich hat das damals ganz
schön beschäftigt. Es waren
ja wahrlich unverhältnismäßig
viele Sterbefälle unter den Katholiken
in der Anstalt, wenn
wir mehrere Verstorbene auf
den Wagen hatten! Und da
es weit mehr Protestanten als
Katholiken in unserer Gegend
gab und an anderen Tagen in
der Landesirrenanstalt auch
protestantische Beerdigungen
stattfanden, mussten ja wohl
noch wesentlich mehr Protestanten
als Katholiken auf diese
Weise zu Grabe gebracht
werden! Erst nach dem Krieg
habe ich erfahren, um welchen
barbarischen Vorgang es sich
handelte:
Die Nazis hatten ein „Euthanasie-
Programm“ entwickelt,
dessen Ziel es war, sogenanntes
„lebensunwertes Leben“
auszulöschen. Diesem
Todesprogramm fielen in
Deutschland selbst, nicht etwa
nur in den eroberten und besetzten
Gebieten, Tausende
von Menschen zum Opfer, die
sich als mehr oder weniger
psychisch gestörte oder physisch
behinderte Patienten in
den entsprechenden Anstalten
befanden oder auch lediglich
unter bloßen Vorwänden
dort hingebracht wurden.
Ja, ursprünglich war dieses
„Programm“ nur für Deutsche
im Interesse der „Reinhaltung“
der „arischen Rasse“
gedacht, erst später wurde
es auf andere Nationalitäten
ausgedehnt. Von September
1941 bis Kriegsende gab es
die Praktik sogenannter ‚wilder
Euthanasie‘ in verschiedenen
Anstalten. Ärzte und Schwestern
sonderten arbeitsunfähige
und lästige Patienten aus,
indem sie sie in der Regel mit
einer Hungerdiät oder einer
Überdosis Luminal oder ähnlichen
Arzneimittel töteten. Mit
der Beisetzung solcher Opfer
der Euthanasie war ich damals
also in der Landsberger
Landesirrenanstalt in Berührung
gekommen! Wie gesagt,
ein schrecklicher Vorgang,
der mir erst nach dem Krieg
im Zusammenhang mit den
Veröffentlichungen über die
durchgeführten Kriegsverbrecherprozesse
in seiner ganzen
Tragweite bewusst geworden
ist.
Pfarrer Dubianski mochte ich
sehr. Er war bei aller Strenge
immer ein gerechter und
guter Mensch und hatte stets
freundliche Worte und Scherze
für uns Ministranten, sofern wir
unserer Sache gut machten.
Ein Freund der Nazis war er
auf keinem Fall. Sicher hat er auch da und dort ein paar Worte gesprochen, die nicht
im Sinne der Machthaber waren.
Er stand schon längere
Zeit unter Beobachtung durch
die GESTAPO, der Geheimen
Staatspolizei der Nazis.
Relativ schnell kam es dann
zur offenen Konfrontation.
Gegen Ende des Jahres 1943
ließ sich der Pfarrer dazu
hinreißen, in eine Predigt
„unpassende“ Bemerkungen
einzuflechten. Ich nehme an,
dass er sich sehr wohl über
das Risiko einer solchen
Predigt im Klaren war. Die
schlimme Folge war jedenfalls,
dass seine Worte zum Anlass
genommen wurden, ihn durch
die GESTAPO am 16. Dezember
1943 verhaften zu lassen.
Über einige Zwischenstationen
kam er als unliebsamer Gegner
der faschistischen Diktatur
am 03. Juni 1944 in das berüchtigte
Konzentrationslager
Dachau, was für viele der
dort eingelieferten Häftlinge
einem Todesurteil gleichkam.
Alle Geistlichen, die von den
Nazis in Deutschland und in
den verschiedenen eroberten
europäischen Ländern verhaftet
wurden, waren hier in
einem separaten Teil des sogenannten
„Schutzhaftlagers“
zusammengefasst, dem sogenannten
„Priesterlager“, das
selbst wieder nur ein Teil des
großen Konzentrationslagers
Dachau darstellte. Erst Ende
April 1945, als das Kriegsende
unmittelbar vor der Tür stand,
wurden die noch im Lager befindlichen
Häftlinge in Richtung
Oberbayern evakuiert. Pfarrer
Dubianski konnte unterwegs
fliehen. Er ging kurze Zeit
später nach Landsberg zurück
und versuchte, seine Pfarrstelle
wieder in Besitz zu nehmen.
Nach der Inbesitznahme der
Stadt durch die Polen wurde er
aber selbst schließlich ausgewiesen.
Aus den Monaten Januar bis
Juni 1945 sind einige weitere
Eindrücke in meinem Gedächtnis
verblieben, die im Zusammenhang
mit den letzten
Kriegsmonaten von allgemeinerem
Interesse sein können.
Im September 1944 kam ich in
Landsberg mit Beginn der 5.
Klasse in die „höhere Schule“.
Ich wurde Schüler des „Hermann-
Göring-Gymnasiums“!
Ich ging damals recht gern in
die neue Schule. Es gab im
Vergleich zur bisherigen Volksschule
neue Fächer, auch der
Sprachunterricht begann. Das
Hermann-Göring-Gymnasium
war ein Neubau, erst vor kurzem
fertiggestellt, großzügig
und modern angelegt und
eingerichtet. Zur Schule gehörte
eine große Aula mit einer
Bühne, fast wie im Theater.
Über der Bühne befand sich
eine Darstellung des Panoramas
von Landsberg, wie man
es am Südufer der Warthe vor
sich hat. Es handelte sich um
ein hölzernes Kunstwerk, eine
sicher sehr wertvolle Intarsienarbeit,
die ich in den Stunden,
die ich in dieser Aula war,
immer sehr bewunderte. Der
Künstler hatte darin den wohl
schönsten Blick auf die Stadt
festgehalten. Hier muss ich
noch einmal Christa Wolf zitieren,
die bei ihrem Landsberg-
Besuch von 1971 jenseits der
Warthe – also auf der Südseite
– auf dem Uferdamm saß und
danach zu ihrem Begleiter bemerkte:
„Über das Panorama warst du
selbst überrascht. Der Fluss,
der gerade hier zu seinem
großen Bogen ansetzt und
sich nach Osten hin verbreitert,
in Ufergestrüpp verliert.
Und jenseits des Flusses die
Himmelslinie der Stadt - Bahnbögen,
Speicherhäuser, die
Kirche, Wohnhäuser -, wie es
heute am Kiosk als Postkarte
verkauft wird... Ja. Das sei natürlich
etwas. Das habe schon
was. Eine Stadt am Fluss, damit
ließe sich etwas anfangen,
auch als Erinnerungsbild.“
Dieses Bild der Stadt in der
Aula des Herman-Göring-
Gymnasiums war lange die
positivste Erinnerung, die ich
von dieser Zeit im Gedächtnis
behalten habe. Die wenigen
Lehrer, an die ich mich noch
erinnern kann, haben vor allen
Dingen negative Eindrücke
hinterlassen. Da war der Musiklehrer,
der immer einen
Rohrstock vor sich auf dem
Tisch zu liegen hatte und bei
jeder kleinen Gelegenheit ein
paar scharfe Hiebe auf die
ausgestreckten Finger schlug.
Auch ich habe mehrfach die
Hände vorstrecken und seine
Schläge aushalten müssen,
ich weiß nicht mehr, warum
eigentlich. Wehe, man zeigte,
dass es schmerzte - dann gab
es unweigerlich ein paar Hiebe
mehr! „Hart wie Kruppstahl,
zäh wie Leder, flink wie Windhunde“
- so sollte doch nach
offizieller nazistischer Vorstellung
gerade in diesen Kriegsjahren
der deutsche Junge
sein! Ebenso eingestellt war
auch der Sportlehrer, der uns
wie Rekruten beim Exerzieren
über den Sportplatz scheuchte,
aber ich war alles andere
als sportlich!
Mit dem Eintritt in das Gymnasium
kam auch der Zeitpunkt,
wo ich zum „Jungvolk“, zu den
„Pimpfen“ musste, also zur
Kinderorganisation der Hitler-
Jugend. Mutter war nicht dafür,
dass ich in diese faschistische
Jugendorganisation eintreten
sollte. Aber es war überhaupt
nicht zu verhindern. Eine Ablehnung,
zum Jungvolk zu gehen,
hätte mit Sicherheit auch
die Ablehnung der Zulassung
zum Gymnasium bedeutet und eventuell weitere Schwierigkeiten hervorrufen können. Nach
Beratung mit verschiedenen
Bekannten kaufte Mutter mir
dann die notwendige „Kluft“,
die beim Jungvolk getragen
wurde. Es war aber schon das
letzte Kriegsjahr angebrochen,
so dass ich nicht mehr oft zum
„Dienst“ musste. Antreten,
Marschieren üben, ein paar
Lieder lernen, an wenigen
großen Appellen teilnehmen
und ein- oder zweimal in den
Wepritzer Bergen „Geländespiele“
mitmachen, das waren
die Aktivitäten, an denen ich
noch teilnahm. An politische
und ideologische Dinge, die
dabei sicher auch gesagt
wurden, besonders in den
Ansprachen der jeweiligen
„Führer“, hatte ich schon sehr
bald überhaupt keine Erinnerung.
Vor allem erschien mir
das alles ein wenig fremd,
auch irgendwie beängstigend.
Es war so ganz anders, als ich
es aus der Ministrantengruppe
in der Kirche oder auch von
zu Hause aus gewöhnt war.
Ich war nicht für die grobe,
kriegerische Art zu haben, und
so konnte ich am Dienst im
Jungvolk auch keinen Gefallen
finden. Auch im späteren
Leben war ich nicht auf das
Militärische erpicht!
Immer unmittelbarer kam
in den letzten Monaten des
Jahres 1944 der Krieg nach
Landsberg, er machte sich
ständig stärker bemerkbar. Es
kamen viele Tage, an dem die
Sirenen heulten und „Fliegeralarm“
gegeben wurde. Große
Pulks anglo-amerikanischer
Luftverbände flogen von Norden,
von der Ostsee her, bis
über Landsberg. Hier drehten
sie nach Westen ab, um vor
allen Dingen Berlin zu bombardieren.
Nur selten wurden
sie in unserem Raum von der
deutschen Fliegerabwehr beschossen.
Sie flogen viel zu
hoch, in großen Mengen und
mit vielen Jagdflugzeugen als
Geleitschutz, so dass auch
hier die deutsche Luftwaffe
sicherheitshalber keinen Angriff
flog. Auch die Bombenlast
der Flugzeuge ging nicht auf
Landsberg nieder. Am Tage
gingen die Menschen bei
„Luftwarnungen“, die über
das Radio vom Ortssender
zu empfangen waren, sowie
beim eigentlichen Fliegeralarm
kaum in die überall vorhandenen
Luftschutzkeller. Lediglich
in der Nacht wurde durch die
„Luftschutzwarte“ der Straßen
und Häuser auf die absolute
Verdunkelung der Fenster
und darauf geachtet, dass die
Hausbewohner bei Alarm auch
tatsächlich in die Keller gingen.
Nach meiner Erinnerung
sind in all diesen Monaten nur
zweimal ganz wenige Bomben
auf Landsberg gefallen, die
aber fast keinen Schaden anrichteten
und wahrscheinlich
mehr aus Zufall oder Versehen
als mit gezielter Absicht
abgeworfen wurden. Aber die
Explosionen dieser Bomben
jagten uns doch einen beträchtlichen
Schrecken ein.
Glücklicherweise blieb die
Stadt also von eigentlichen
Luftangriffen verschont, selbst
die Rüstungsbetriebe der IGFarben-
Werke am Stadtrand
wurden in dieser Zeit nicht
angegriffen, wahrscheinlich mit
Absicht verschont. Vielleicht
wurde hier von den Kriegsgegnern
nach dem Spruch gehandelt:
„Eine Krähe hackt der anderen
kein Auge aus!“ Waren
doch schließlich amerikanische
Firmen an den IG-Farben
und anderen Rüstungsbetrieben
in Deutschland finanziell
beteiligt, sie verdienten an
der deutschen Rüstung wie
umgekehrt deutsche Aktionäre
an der anglo-amerikanischen
Rüstung. Sie waren natürlich
nicht daran interessiert, ihr
eigenes Kapital unnötig zu zerstören,
so lange sie Aussicht
hatten, es wieder ganz in ihre
Finger zu bekommen!
Immer mehr Flüchtlinge
strömten aus den Gebieten im
Osten in die Stadt und zogen
zumeist nach Westen weiter.
Große Viehherden, vor allen
Dingen Kühe, wurden von
Osten her durch die Stadt getrieben.
Gruppen Verwundeter
kamen von der Ostfront und
wurden in schnell eingerichteten
Lazaretten untergebracht.
Ende des Jahres 1944 wurde
ein solches Lazarett auch im
Hermann-Göring-Gymnasium
geschaffen. Der Schulbetrieb
wurde eingestellt. Damit war
bereits nach wenigen Monaten
meine Gymnasialzeit auch
schon wieder beendet. Ich
habe keinen unmittelbarten
Beleg über diese Periode.
Die Ereignisse spitzten sich
in wenigen Wochen mit großer
Schnelligkeit zu. Der von
Deutschland ausgegangene
Krieg kam zu den Deutschen
selbst zurück und erreichte
auch Landsberg a. d. Warthe!
Mitte Januar 1945 setzten
die sowjetischen und die mit
ihr kämpfenden polnischen
Einheiten zum weiteren Vorstoß
gegen die deutschen
Truppen an. Die sowjetische
1. Belorussische Front unter
dem Oberbefehl von Marschall
G. K. Shukow führte seit
dem 14. Januar 1945 mit der
«Weichsel-Oder-Operation»
eine Offensive in Richtung
Westen, die vom englischen
Premier Winston Churchill als
Entlastung der Westfront von
Stalin gewünscht wurde.
Die letzten nennenswerten
Verteidigungslinien der
Deutschen im Großraum um
Landsberg konnten diesen
Angriffen nicht standhalten. Der von der Nazi-Propaganda so gelobte Ostwall erwies
sich als ein ziemlich kläglicher
Versuch, die Front zu stabilisieren.
Im Osten von Landsberg
wurde der sogenannte
„Wartheriegel“ in der zweiten
Januarhälfte durchbrochen.
Die Verteidigungsstellungen
im „Oder-Warthe-Bogen“ südlich
und südwestlich der Stadt
erwiesen sich mit Ausnahme
einiger Abschnitte an der
Oder als ebenso durchlässig.
Die „Pommern-Linie“ von
Neustettin
über Deutsch-Krone
bis Landsberg konnte nur in
ihrem nördlichen Teil noch einige
Wochen gehalten werden.
In der dritten Etappe dieser
Offensive, vom 25. Januar bis
3. Februar 1945, erfolgte der
Durchbruch der sowjetischen
Truppen durch die befestigten
deutschen Grenzbezirke
bis zur Oder. Es war die 5.
Stoßarmee dieser Front, unter
dem Befehl von General N.
E. Bersarin, die Landsberg
im Norden umging und zum
Ende des Monats zügig bis an
die Oder nördlich von Küstrin
(heute Kostrzyn) vorstieß.
Dass sich die sowjetischen
Truppen näherten, war uns
zumindest in der letzten Januarwoche
bewusst, nur, wie
schnell sich die Frontlinie
tatsächlich voranschob, ahnten
wir nicht. Am 29. Januar
abends sprach der örtliche
Führer der „Kreisleiter“ der
NSDAP, über den Ortssender
und rief mit Durchhalte-parolen
dazu auf, die Stadt - wie es
der „Führer und Reichskanzler
Adolf Hitler“ wollte - „bis zum
Letzten“ zu verteidigen. Wovon
wir nichts wussten, während
wir diese Ansprache hörten,
dass vor der Nazidienststelle
bereits die Autos standen, mit
denen sich die örtlichen Größen
von Partei und Staat unmittelbar
danach in Richtung
Westen absetzten. Wir wachten
in der folgenden Nacht
zum 30. Januar vom Lärm von
Panzergefechten auf, die sich
nördlich von Landsberg beim
Vorstoß der 5. Stoßarmee
der 1. Belorussischen Front
abspielten. Ich weiß nicht, ob
mich Mutter nur beruhigen
wollte, oder ob sie selbst noch
daran glaubte, jedenfalls war
sie der Annahme, dass es sich
wohl um eine „Nachtübung“
handeln würde. Sie hatte von
Anfang an nicht die Absicht,
die Stadt zu verlassen. Wo
sollten wir auch hin? Verwandte
jenseits der Oder hatten
wir nicht viele, nur in Berlin,
aber ob die nicht auch schon
längst „ausgebombt“ und/oder
„evakuiert“ waren, wussten
wir nicht. So erklärte Mutter
ihr Vorhaben, in Landsberg zu
bleiben, auch ihrer Schwägerin,
meiner Tante Martha, die
am 30. Januar in aller Frühe
an unsere Wohnungstür klopfte.
Sie war sehr aufgeregt und
ängstlich, sie wollte unbedingt
mit ihren Kindern Norbert und
Ursula flüchten, hätte uns aber
gern zur Unterstützung und
gegenseitigen Hilfe dabeigehabt.
Um den Weg in der Eile
abzukürzen, war sie von der
Südstadt her über das Eis der
in diesem Jahr Ende Januar
fest zugefrorenen Warthe gelaufen,
um uns zur gemeinsamen
Flucht zu veranlassen.
Aber Mutter wollte mit mir auf
jeden Fall zu Hause in Landsberg
bleiben und sich nicht auf
eine ungewisse Flucht begeben.
Tante Martha, die diese
Haltung absolut nicht teilte,
hat es dann tatsächlich noch
geschafft, mit ihren Kindern
Ursula und Norbert in einen
völlig überfüllten Zug hineinzukommen
und die Stadt zu
verlassen.
In jenen Stunden muss sich
auch ein für unsere Familie
tragisches Ereignis abgespielt
haben. Im letzten Zug befand
sich meine Großmutter
väterlicher-seits. Sie war von
einem ihrer Kinder in den Zug
gesetzt worden. Über Jahrzehnte
wusste niemand in
unserer Verwandtschaft, was
danach eigentlich passiert
war. Fest steht lediglich, dass
meine Großmutter niemals in
Berlin oder anderswo ankam!
Erst vor wenigen Jahren habe
ich den Hinweis gefunden,
dass ein Flüchtlingszug am 30.
Januar kurz hinter Landsberg
gehalten habe und die Leute
aussteigen mussten. Nun
scheint der Vorgang aufgeklärt
zu sein. Ein Landsberger, damals
14 Jahre alt, berichtet
über die Flucht seiner Familie
aus der Stadt. Er schreibt im
„Heimatblatt“ Nr. 49 u. a.:
Ein bekannter Eisenbahner
„gab uns den Hinweis, dass
auf dem Güterbahnhof bei den
Lockschuppen Eisenbahner
damit beschäftigt seien, die
noch in Landsberg vorhandenen
Lokomotiven vor den Russen
in Sicherheit zu bringen.
Wir machten uns also mit Hilfe
der Großmutter auf den Weg
dorthin. Dort fanden wir fünf
Lokomotiven vor, die zu einem
Konvoi zusammengestellt waren
und zur Abfahrt vorbereitet
wurden…. Der 30. Januar
1945 war ein kalter klarer Wintertag.
Der Vollmond war vor
wenigen Tagen vorüber und
tauchte die verschneite Umgebung
noch in ein helles diffuses
Licht. So sahen wir schon
von weitem einen Truppe
bewaffneter, mit weißen Umhängen
bekleideter Soldaten
heranlaufen. Zuerst dachten
wir alle es wären schon die
Russen, aber es stellte sich
schnell heraus, dass es sich
um das Sprengkommando der
Brücken handelte, die eine
Mitfahrt erzwangen … Nach langem Warten setzte sich dann endlich unser Konvoi in
Bewegung. Wie ich erst nach
dem Tode meines Vaters in
seinem damals geführten Notizbuch
fand, war es abends
um 22 Uhr. Aber unsere Fahrt
währte nicht lange. Schon kurz
hinter Wepritz mussten wir
wieder anhalten. Vor uns hatte
sich ein Eisenbahnunglück
ereignet. Ein Reichsbahnbetriebszug
war auf den letzten
Flüchtlingszug aus Landsberg
aufgefahren. Es hatte viele
Tote und Verletzte gegeben.
Wir Kinder wurden aber so gut
abgeschirmt, dass wir erst viel
später über den wahren Umfang
des Unglücks unterrichtet
wurden. Mir ist nur ein zum Teil
noch brennender Personenzugwagen
in Erinnerung, der
bei unserer Weiterfahrt neben
dem Bahndamm lag.“
Zu den Toten dieses Zugunglücks
gehörte mit großer
Wahrscheinlichkeit meine
Großmutter! So ist sie in den
Stunden ihrer Flucht noch
selbst ein Opfer des Krieges
geworden.
Joachim Gasiecki
Paul-Abraham-Weg 3
17033 Neubrandenburg
(Fortsetzung folgt im nächsten
Heft)
Erstellt am 27.08.2016 - Letzte Änderung am 27.08.2016.