Geschehnisse ab Januar 1945
Um die Geschehnisse ab dem Januar 1945 festzuhalten möchte ich für die Archive meinen Beitrag leisten. Wir wohnten in Jahnsfelde – Jancewo – im Schulhaus mit meiner Mutter, meinem Vater und meinen Brüdern Joachim, Eberhard und Wolfgang (16, 14 und 13 Jahre).
Am 30. Januar 1945 kamen
russische Truppen am Abend
in das Dorf. Wir hörten Gewehrschüsse
im Park. Wir Kinder
gingen ans offene Fenster
an der Ostseite des Flures.
(Mehr als fahrlässig). Danach
sahen wir auf der Straße viele
Pferdefuhrwerke in Richtung
Westen fahren. Noch am
Abend wurden alle Bewohner
des Dorfes in einer Scheune
im Vorwerk zusammengefasst.
Der russische Kommandant
hatte die Hähne der Brennerei
öffnen lassen die russischen
Soldaten schöpften mit allem,
was sie finden konnten. Zum
Schluss mussten auch noch
die Mützen herhalten. Es ließ
sich jedoch nicht vermeiden,
dass einige betrunkenen Soldaten
in die Scheunen kamen.
Ein Soldat zählte die Patronen,
zielte auf uns und fuchtelte
der am Abzug herum. Ob er
so betrunken war, dass er die
Sicherung nicht lösen konnte
oder uns nur erschrecken
wollte, wissen wir nicht. Unser
mittlerer Bruder hatte wegen
der Kälte im Februar nachts
den Mantel meiner Mutter
angezogen. Im schwachen
Licht glaubten die russischen
Soldaten, mein Bruder sei
ein Mädchen. Er musste sich
ausziehen um zu beweisen
dass er ein Junge ist. Ich habe
mich geschämt, ein Junge zu
sein, als ich die Angst und Not
der weiblichen Bevölkerung
erlebte. Langsam löste sich
die Furcht des Militärs vor Sabotageakten
von der Bevölkerung.
Wir gingen nach einigen
Tagen zu unserer Wohnung
und wollten schauen, wie es
dort aussieht. In der Wohnung
waren deutschsprachige Personen,
die von Stalin für den
Aufbau der DDR vorgesehen
waren. Meine Mutter fragte, wo
denn unsere Teppiche geblieben
waren? Als wir die Wohnung
betreten durften stand
an der Bodentür die Antwort:
Teppiche sind in der Bodenkammer.
In den Schulräumen
war bis zum Einmarsch der
Russen ein Aufenthaltsraum
für die nach Westen ziehenden
Flüchtlinge eingerichtet. Einigen
russischen Frontsoldaten
kamen die Tränen, als sie
die Flüchtlinge mit der Angst
und den schreienden Kindern
sahen. Die Räume wurden
später als Lazarett benutzt.
Wir richteten unsere Wohnung
einigermaßen her und zogen
ein. Mein Bruder ging zum
Wasser holen. Auf der Straße,
die am Schule Haus vorbeiführte,
fuhren hintereinander
Panzer und Lastwagen. Ein
Lastwagen hielt an, und die
Soldaten schnappten sich
meinem Bruder. Die Straße
war durch Glatteis rutschich
so dass mein Bruder vom
Auto springen konnte und
sich im Park versteckte. Die
Kolonne konnte jedoch nicht
warten, um ihn zu suchen und
musste weiterfahren. Vom
Küchenfenster konnte man auf
die Straße sehen. Dort kamen
unter Bewachung Treiber aus
unserem Ort mit vielen Kühen.
Sie hielten am Schulhaus an,
ein Bewacher fand auch gleich
den richtigen Eingang zur
Wohnung. Wir Kinder flohen
auf den Boden und über die
Dachluken auf das Dach. Der
Bewacher suchte die ganze
Wohnung ab, fand uns aber
nicht. Sein Pferd war am
Schulzaun angebunden und
wurde unruhig, so dass er die
Suche abbrach. Auf der Straße
fuhr ein Panzer nach dem
anderen mit Aufsätzen der
Infanterie nach Westen an die
Oder Front. Als wir wieder zum
Wasser holen gingen, gestikuliert
und riefen auf einem
Panzer Infanteristen. Wir
dachten erst, sie wollen uns
einfangen, merkten aber bald,
dass sie uns erkannten und
uns grüßten. Wir hatten uns
mit den damaligen russischen
Gefangenen öfter unterhalten.
Als wir nach der Kapitulation
zu Fuß mit drei Handkarren
Jahnsfelde verlassen hatten,
kamen wir auch durch die
Selower Höhen. Da dürften
auch die damals uns grüßenden
Infanteristen geblieben
sein. Am Tag des Aufbruchs in
den Westen umstellten morgens
plötzlich russische Soldaten
das Schulgebäude. Wir
dachten, jetzt geht es uns an
den Kragen. Doch dann sahen
wir, dass russische Zivilgefangene
auf den Schulhof getrieben
wurden. Sie hatten bei
den Deutschen arbeiten müssen.
Wir fragten sie, warum
sie so behandelt würden: laut
Stalins Befehl müssten sie zur
Umerziehung nach Russland.
Nach dem morgendlichen
Aufbruch kamen wir zu Fuß
am Nachmittag an der Odergrenze
an. An der Oderbrücke
standen viele deutsche Kriegsgefangene.
Die russischen
Grenzbewacher untersuchten
unsere drei Handwagen und
fanden auch den Alkohol, den
wir als Zahlungsmittel aus der
Brennerei in Jahnsfelde mitgenommen
hatten. Wir mischten
uns unter die deutschen
Kriegsgefangenen und liefen
einfach auf die Oderbrücke
zu. Als die Grenzsoldaten das
bemerkten, schossen sie nach
uns. Sie hatten wohl schon zu
viel Ziel Wasser getrunken. Sie
haben uns jedoch nicht getroffen.
In der Stadt Küstrin (TX)
auf der westlichen Uferseite
übernachteten wir in einem der
drei nur zum Teil zerstörten
Häuser. In der Nacht wurden
wir von russischen Deserteuren
überfallen. Wir machten
aber so ein Geschrei, dass
wir Ihnen das geraubte Gepäck
wieder abjagen konnten.
Die Lebensmittel waren zu
dieser Zeit überlebenswichtig.
Wir zogen zu Fuß weiter
nach Berlin. Von dort sind wir
mit einem russischen Laster
nach Kyritz an der Knatter
zu unserem Onkel gefahren.
Dort traf auch ein Brief von
meinem Vater ein. Er war in
Norddeutschland in englische
Kriegsgefangenschaft gekommen.
Die englische Luftwaffe
stellte die deutschen Soldaten,
die ihre Heimat östlich der
Elbe hatten ein. Sie bekamen
englische Militäruniformen,
aber keine Waffen. Sie hatten
Vorgesetzte vom deutschen
Militär. Churchill hatte vor, vom
Süden Europas ausschließlich
mit deutschem Militär nach
Norden vorzustoßen, um der
russischen Armee Osteuropa
zu entreißen. Als Stalin davon
erfuhr, wandte er sich an die
amerikanische Regierung. Die
veranlasste, dass der Plan von
Churchill aufgegeben werden
musste. Die RAF-Gruppen
wurden aufgelöst. Mein Vater
konnte erreichen, dass wir von
Kyritz in die britische Besatzungszone
übersiedeln durften.
Von nun an ging es wirtschaftlich
langsam aufwärts.
Wir Kinder bekamen eine gute
Ausbildung, und mein Vater
erhielt wieder eine Anstellung
als Lehrer.
Mitte der neunziger Jahre
fassten wir den Mut, unsere
alte Heimat zu besuchen.
Von den fünf Familienangehörigen bin ich allein übrig
geblieben. Meine Frau, meine
Schwiegertochter und mein
Sohn und ich fuhren zunächst
nach Landsberg (Gorzów). Im
Hotel Miesko ließen wir uns
ein Schreiben in polnischer
Sprache anfertigen. Wir fuhren
dann weiter nach Jahnsfelde
(Jancewo). Die Inhaberin
unserer früheren Wohnung,
Frau Drewing, hat uns sehr
freundlich aufgenommen und
uns alle Räume gezeigt. Die
Kindheitserinnerungen wurden
wieder wach. Nach der
Rückkehr blieben wir mit der
Familie Drewing in schriftlicher
Verbindung. Die Familie baute
die Wohnung völlig um. Beim
nächsten Besuch konnten wir
das Resultat mit Freude besichtigen.
Die Familie Drewing
hatte uns ein festliches Empfangsessen
bereitet. Sie laden
uns am nächsten Tag zum Essen
in Schloss Mehrenlin ein.
Wir haben nicht bloß die
Besuchertermine in guter
Erinnerung, auch die trüben
Erinnerungen der Vergangenheit
haben sich zum Guten
gewendet. Dafür nochmals
herzlichen Dank
Wolfgang Paech
Bolzweg 26
73035 Göppingen
Erstellt am 29.08.2016 - Letzte Änderung am 29.08.2016.