Die letzten 24 Stunden in der Heimat Landsberg
Meine Mutter wurde in Passau geboren und ist in Ingolstadt aufgewachsen. Hier lernte sie auch meinen Vater kennen, der in Zittau (Sachsen) zur Welt gekommen war und nach dem 1.Weltkrieg einige Jahre in Ingolstadt gearbeitet hatte. 1926 zog er nach Landsberg, wo er in der Eisenhandlung Wilhelm Hoch, Wollstraße, beschäftigt war. 1928 haben meine Eltern geheiratet und wohnten zunächst im Buchwaldweg (nahe der Strantz-Kaserne). Dort kam ich 1930 auf die Welt, mein Bruder dann 1933. Wir zogen einige Male um, erst in die Hohenzollernstraße, dann für ein Jahr nach Neubrandenburg, wieder zurück nach Landsberg in die Zeppelinstraße. Etwa 1936/37 machte sich unser Vater selbständig und eröffnete die Eisenwarenhandlung Oswald Maßlich in der Wollstraße 20. Ab 1938 hatten wir auch unsere Wohnung dort. Unsere Oma, die nach wie vor in Ingolstadt lebte, besuchten wir jedes Jahr in den großen Ferien.
Wir haben Dienstag, den 29. Januar 1945, später Vormittag! Der Tag beginnt wie alle in den letzten Wochen, länger schlafen, denn Schule ist keine.
Das Schulgebäude, Mädchen-Mittelschule an der Theaterstraße, ist zur Herberge für die Trecks geworden, die seit Wochen durch die Stadt ziehen. Die Turnhalle wurde zur Unterkunft für die Pferde, im Hof waren die Fuhrwerke abgestellt, in den Klassenräumen fanden die Menschen ein warmes Obdach. Im daneben stehenden Volksschulgebäude für Jungen befand sich eine geräumige Schulküche, da konnte für die Flüchtlinge gekocht werden.
Mein Bruder hat morgen Geburtstag, er wird 12 Jahre alt. Es soll eine Geburtstags- und gleichzeitig Abschiedsfeier werden mit den Freunden und Freundinnen sowie Nachbarskindern. Mein Geburtstag soll gleich mitgefeiert werden. Am 1. Februar werde ich 15 Jahre alt. Ob wir dann noch in Landsberg sind? In den Nachrichten brachten sie die Meldung, dass die Russen schon bei Schwedt an der Oder sein sollten. Eine Torte ist beim Bäcker Giebel für morgen bestellt, und Kuchen will die Mutter auch noch backen. Nach dem Mittagessen treffe ich mich mit meiner Freundin, und wir gehen zum Rodeln in den Quilitzpark, denn in der Nacht hatte es geschneit. An der Rodelbahn angekommen, sind wir die einzigen. Die Abfahrt ist überhaupt nicht eingefahren, weit hinunter kommen wir nicht, der Schnee bremst die Schlitten zu stark ab. Ein paar Mal fahren wir, aber es macht keinen Spaß. So beschließen wir heimzugehen. Unten auf der Kladowstraße kommt ein Pferdefuhrwerk daher, der Kutscher fährt bestellte Kohlen aus. Wir hängen unsere Schlitten hinten am Fuhrwerk an und lassen uns durch die Straßen ziehen. Immer wieder ist das mit Halt verbunden, wenn der Kutscher die Kohlen in die Keller der zu beliefernden Kunden schleppt. So gelangen wir in die Meydamstraße. Beim letzten Gebäude links, der ehemaligen alten Kaserne, steht noch eine Lieferung Kohlen an. In den Hof hinein geht die Fahrt bis zur Haustür. Der Kutscher beginnt mit dem Abladen. Meine Freundin und ich schauen uns im Hof um, der voller Treckwagen steht. An den Wagen sind Schilder angebracht mit den Namen der Bauern und den Herkunftsorten. „Gurkow“ steht bei einigen darauf! Da wird mir ganz mulmig zu Mut. So nah sind die Russen also schon! Die Lust am Schlittenfahren durch die Stadt vergeht mir recht schnell. Wir machen uns auf den Heimweg. Es wird dunkel, das Abendessen steht bald an. Zwei Kuchen hat die Mutter noch gebacken für die vorgesehene Geburtsfeier, die Torte wird morgen früh beim Bäcker geholt. Da läutet es. Die Nachbarin unserer Tante, die in Dechsel wohnt, steht vor der Tür. Es war ausgemacht, daß unsere Tante mit ihrem Kind zu uns nach Landsberg kommt, damit wir gemeinsam flüchten. Unser Ziel ist Ingolstadt. Die Nachbarin der Oma hat zwei unbenutzte Zimmer angeboten, und so hätten Tante und Cousine gleich eine schöne Unterkunft bis Kriegsende gehabt, bis es wieder nach Landsberg zurückgeht, wie wir glauben! Die Frau aus Dechsel sagt, sie sollte für die Tante bei uns nachfragen, was jetzt sei. Wir aber warteten schon seit Tagen, daß die Tante eintrifft. Unsere Mutter bat, der Tante auszurichten, schleunigst nach Landsberg zu kommen. Die Frau fuhr dann mit dem Zug nach Dechsel zurück.
Der Tag geht wie gewohnt zu Ende. In den Nachrichten hören wir noch, daß russische Panzerspitzen bei Frankfurt die Oder erreicht haben. Oh Gott, hoffentlich können wir die Geburtstagsfeier morgen noch abhalten, so denke ich vor dem Einschlafen. Es sollte aber dazu nicht mehr kommen 30. Januar 1945. Es läutet Sturm, es ist 6 Uhr in der Früh! Schlaftrunken öffnen wir die Tür. Eine Hausbewohnerin steht dort: „Schnell, steht auf, Landsberg wird geräumt! Ich geh‘ mal zum Bahnhof nach den Zügen schauen und sage euch dann Bescheid.“ Wir ziehen uns rasch an, alles liegt schon bereit. Wir wissen ja nicht, mit was für Zügen wir fahren werden, es können ja auch Güterwaggons sein, die über keine Heizung verfügen – und es ist tiefster Winter! Zum Frühstück wird einer der Kuchen angeschnitten, der zweite wandert als Wegzehrung in die Einkaufstasche. Mitten beim Frühstück kommt die Nachbarin vom Bahnhof zurück: „Ein Zug steht im Bahnhof, der ist aber schon voll, der nächste ist unterwegs und soll laut Bahnbeamten bei Dühringshof sein“, so berichtet sie. Mir bleibt der Bissen im Halse stecken: Nur ein Zug im Bahnhof, und der schon voll? Ich hatte mit vielen Zügen gerechnet, um die Leute wegzubringen. Nun dies! Ich brauche kein Frühstück mehr. Stattdessen treibe ich Mutter und Bruder zur Eile an. Mantel und Stiefel anziehen, die fertig gepackten Koffer und Rucksäcke geschnappt, auf dem Schlitten festbinden und ab geht es zum Bahnhof. Zuvor aber noch alle Türen sorgfältig abschließen und zusätzlich noch mit Schlüssellochsperren sichern. Ganz so, wie man es gewohnt war, wenn man auf Reisen ging.
Gegen 7 Uhr 30 kommen wir am Bahnhof an. Den Schlitten stellen wir im Hof des Postgebäudes ab, unmittelbar neben dem Bahnhof. Dort stehen schon viele weitere. In der Bahnhofshalle sind nur vereinzelte Leute, die Bahnbeamten lassen uns ohne weiteres durch die Sperre. Oben auf dem Bahnsteig ist auch nicht allzu viel Betrieb. Dort treffen wir wieder auf die Nachbarin, die uns aufweckte. Der volle Zug steht immer noch auf Gleis eins. Ich sehe durch die Fenster hinein, er ist voll, aber lange nicht so proppenvoll, wie ich mir eigentlich dachte. Wir hätten leicht zusteigen können, in den Gängen wäre allemal noch Platz. Da die Bahnbeamten auf dem Bahnsteig sagten, der nächste Zug werde jeden Moment da sein, beschließen wir zu warten. Dann bekommen wir wenigstens einen Sitzplatz. Etwa nach einer halben Stunde fährt der Zug dann ab. Und wir warten, warten und warten. Der angesagte Zug kommt nicht. Jetzt reut es mich, daß wir nicht eingestiegen sind. Wir wären dann bereits weg, denn Kanonendonner hört man schon. Ich schaue immer wieder nach Osten und befürchte, daß die Russen von dorther auf den Gleisen vordringen könnten. Während dessen kommen immer mehr Menschen auf den Bahnsteig, er füllt sich langsam. Eine schwangere Frau bekommt die Wehen und wird mit einer Trage ins Krankenhaus transportiert – was wohl aus ihr und dem Baby geworden ist? Auch die sogenannten Kettenhunde sind auf dem Bahnsteig und kontrollieren alle Männer. Nur Verwundete und Männer über 65 dürfen die Stadt verlassen, alle anderen müssen zum Volkssturm und sollen ja die Stadt verteidigen. Die Zeit verrinnt, ich mache den Vorschlag, noch mal schnell nach Hause zu rennen und noch etliches zu holen, z.B. die Daunensteppdecken, die verpackt und verschnürt in der Küche liegen. Wenn ich schnell renne, bin ich in gut 10 Minuten wieder zurück. Zunächst lehnt die Mutter es ab. Gibt aber dann doch die Erlaubnis. Ich laufe die Treppe vom Bahnsteig hinab und will weiter zum Bahnhof hinaus. Es geht aber nicht, die Bahnhofshalle ist voller Menschen, die Sperre ist geschlossen. Durch die offenen Bahnhofstüren blicke ich auf den Bahnhofsvorplatz und die Bahnhofstraße, die bis über die Hälfte hinauf schwarz ist von Menschen. Jetzt hat es sich also in der Stadt herumgesprochen, und alles will weg aus Landsberg. Ich mache kehrt, denn da komme ich nicht mehr in den Bahnhof hinein, wenn ich zurück will. Wieder zum Bahnsteig hoch. Der angekündigte Zug kommt, aber nicht auf Bahnsteig I, wo wir warten, sondern auf Bahnsteig II. Alles turnt über die Gleise und drüben wieder hoch. Rein in den Zug und wieder warten. Ich weiß nicht mehr, wie lange der Zug noch stand, aber mit der Angst im Nacken, daß noch etwas dazwischen kommt, dauert eine Wartezeit sowieso länger. So gegen ½ 11 Uhr verläßt der Zug endlich den Bahnhof. Wir sind zwar aus Landsberg weg, aber in Sicherheit sind wir noch nicht. Eine halbe Stunde Fahrzeit bis Küstrin ist das Normale, aber unser Zug zuckelt im Schneckentempo dahin, hält in jedem Dorf und auch auf freier Strecke. Auf halbem Weg kommt uns noch ein Zug entgegen, nur ein einziger, der letzte, der Landsberg gegen 15 Uhr verlassen wird.
Unser Zug steht im Bahnhof Küstrin schon seit geraumer Zeit. Plötzlich heißt es, daß russische Panzerspitzen am Stadtrand von Küstrin ständen. Soll unsere Flucht so kurz vor der Oder schon zu Ende sein? Zu Fuß zur Oder und übers Eis den Fluß überqueren? Endlich setzt sich der Zug wieder in Bewegung. Dann geht es über die Oder, und ich merke, wie die Anspannung der letzten Stunden von mir abfällt.
Es dauert noch einige Stunden bis Berlin, was mich aber nicht mehr berührt, denn die Oder liegt hinter uns! Abends gegen 8 Uhr steigen wir am Bahnhof Zoo aus dem Zug und übernachten bei Bekannten. Vom Schicksal der Tante und meiner Cousine in Dechsel erfuhren wir im Oktober, dass sie dort geblieben waren bis zur Ausweisung im Juni 1945. Von der Hungersnot geschwächt, starb das sechsjährige Mädchen in Prötzel bei Straußberg an Typhus. Die Mutter wollte sich nicht von dem Grab trennen, so daß mein Onkel Erich Maßlich schließlich in die Ostzone umsiedelte.
Wie geht es am 31. Januar weiter nach Ingolstadt? Ziemlich üblich, aber langwierig. Vormittag geht unsere Mutter mit der Bekannten zum Postamt, um zwei Telegramme aufzugeben, eines an die Großmutter nach Ingolstadt, um sie auf unser Kommen vorzubereiten, das zweite geht an unseren Vater, der zu dieser Zeit in Rothenburg ob der Tauber ist mit seiner Einheit. Sie befinden sich auf dem Rückzug nach Süden. So wissen beide Bescheid, daß wir aus Landsberg weg sind. Gegen Mittag fahren wir vom Anhalter Bahnhof ab Richtung Süden. Das gleiche Gezuckel wie gestern zwischen Landsberg und Berlin. Der Zug steht mehr als er fährt. Erst in der Nacht stehen wir im Bahnhof Leipzig. Da kommt Fliegeralarm. Der Zug soll raus aus dem Bahnhof und raus aus der Stadt, es könnte ja auch ein Bombenangriff werden, und Großstadtbahnhöfe sind besonders gefährdet. Auf freier Strecke bleibt der Zug stehen bis der Fliegeralarm vorbei ist. Ab da geht es dann zügig weiter.
Wir haben den 1. Februar 1945. Es ist schon wieder hell, als wir in Regensburg ankommen. Hier müssen wir umsteigen. Von Regensburg aus gibt es nur dreimal täglich eine Zugverbindung nach Ingolstadt, morgens, mittags und abends. Der Frühzug ist schon weg. Um nicht im Wartesaal rumsitzen zu müssen, beschließen wir, zu einer Freundin der Mutter zu gehen. Die wohnt in unmittelbarer Bahnhofsnähe. Während wir auf den Mittagszug warten, kommt Fliegeralarm. Im Keller treffen wir auf die Hausbewohner, die allerlei über unsere Flucht vor den Russen erfahren wollten. Dabei stellt sich heraus, dass sie nicht die geringste Ahnung davon haben, was sich in den letzten Wochen in Ostdeutschland so abgespielt hat mit den Trecks und Flüchtlingszügen. Regensburg war einfach zu weit ab vom dortigen Geschehen. Der Fliegeralarm dauert zu lange, der Mittagszug fällt aus. Als wir am Abend in Begleitung der Familie zum Bahnhof gehen, will uns an der Sperre der Bahnbeamte nicht passieren lassen, weil wir keine Fahrkarten haben! Der Ehemann der Freundin, ein Bahnbeamter, greift ein, und wir kommen so durch die Sperre. Kurz vor acht Uhr sind wir dann in Ingolstadt, weit weg vom Schuß!
An der Sperre bekommen wir die Kehrseite der Medaille zu spüren. Der Bahnbeamte will unsere Fahrkarten sehen, aber wir haben keine. „Ohne Fahrkarten kommt ihr mir nicht durch die Sperre!“ so sagte er, „in Deutschland wird ohne Fahrkarten nicht mit dem Zug gefahren!“
Unsere Mutter will ihm erklären, daß wir vor den Russen mit einem Flüchtlingszug nach Berlin transportiert wurden usw. Der Beamte bleibt stur bei seinem Spruch: ohne Fahrkarten kein Zugfahren. Ein Streitgespräch entwickelt sich, und was für eines! Noch nie habe ich die Mutter so wütend gesehen. Bis ihr der Kragen platzt. „Ihr lebt ja hier hinter dem Mond“, ruft sie, schiebt die Koffer, meinen Bruder und mich durch die Sperre, wütend schimpfend an dem Bahnbeamten vorbei, der ebenso wütend hinter uns her schimpft. Hier in Ingolstadt hatte man wirklich keine Ahnung vom Geschehen im Osten Deutschlands. Dort geht die Welt unter, hier lebt man friedlich vor sich hin. Wir machen uns zu Fuß auf den Weg, und gegen neun Uhr stehen wir bei der Oma vor der Tür. Diese ist abgesperrt, und wir müssen klingeln. Oma wohnt im dritten Stock, es dauert und dauert bis aufgesperrt wird. Nun sehen wir, warum: die Hausbewohner stehen im Hausgang, um uns zu empfangen. Hat doch die Oma auf dem Weg nach unten überall die Bewohner herausgeklingelt, und deshalb brauchte sie so lange.
Der 1. Februar neigte sich dem Ende zu und damit auch mein 15. Geburtstag. Das Unverständnis der hiesigen Bevölkerung trifft mich ein paar Tage später schon wieder: Schulanmeldung in Ingolstadt. Der Direktor will das letzte Zeugnis einsehen. Wer hätte denn daran in Landsberg gedacht? Aber der Direktor wollte nicht verstehen, wie man sich in einer Schule anmelden will, ohne ein Zeugnis dabei zu haben. Ich werde auf Probe in die entsprechende Klasse aufgenommen und habe keine Schwierigkeiten im Unterricht mitzukommen.
Dorothea Albrecht geb. Maßlich früher Landsberg, Wollstr. 20
Parkstr. 8, 85051 Ingolstadt.
Aus dem handschriftlichen Bericht übertragen von Dr. Matthias Lehmann Waldstr. 63, 54329 Konz-Könen
Erstellt am 24.08.2016 - Letzte Änderung am 24.08.2016.