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Aus dem
Heimatblatt
der ehemaligen Kirchengemeinden Landsberg Stadt und Land
Heft Nr. 44 (Jun. 2012) Seite 16-25



„Wege übers Land“

  1. Idyll im Netzebruch
  2. Unbeschwerte Kindheit
  3. Unruhe aus dem Osten
  4. Flucht
  5. Vertreibung
  6. Das Elend nimmt kein Ende.
  7. Jugend in Trümmern

Idyll im Netzebruch

Dort wo flaches, frisch bebautes Ackerland und weite grüne Felder und Wiesen inmitten einer idyllisch gelegenen Landschaft zur Ruhe, Frieden und Eintracht anmuten, wo kleine Gräben in den Nebenfluss der Warthe, der Netze, einmünden, liegt eingebettet in Kiefernwäldern und märkischer Heide das Örtchen Lipke/Kanal in der Neumark im Brandenburger Land. Ein Stück Lebensqualität bietet die frische laue Luft, umgeben von kleinen Anwesen der knapp 100 Einwohner, welche sich ausnahmslos von der Landwirtschaft ernähren.


Lipke-Kanal, Haus Nr. 67, Eigentümer Albert Briese

In diesem Örtchen in der Neumark, zwischen Landsberg/ Warthe und Schneidemühl gelegen, hat auch die Familie Briese ihr Domizil. Sie bewohnt ein eigenes kleines Bauernhaus und bewirtschaftet Grund und Boden mit ungefähr 3 Hektar Gesamtfläche. Der Ort besteht aus 2 Häuserreihen, welche durch einen kleinen, an den Ufern mit Kräutern und Farnen bewachsenen, fließenden Wasserkanal getrennt sind. Fische, Frösche und Sprotten zieren den Grund und spiegeln sich in der Sonne. Von Haus zu Haus wird der Kanal durch schmale Holzstege überbrückt, mit Ausnahme von einigen aus stabilen Kanthölzern gezimmerten Brücken für Pferdefuhrwerke und Erntegeräte. Die Gehöfte sind jeweils links und rechts durch wasserführende Gräben getrennt, die Rinnsale enden im Kanal. An den Grabenrändern wachsen vornehmlich Birken und Ebereschen. Jeweils an den Pfingstfeiertagen bietet sich an den Eingangstüren der einzelnen Häuser ein schöner Blick. Birkenstämme und Zweige zieren den Eingangsbereich und geben so dem Anwesen ein festliches Aussehen. An einer seichten Stelle im Kanal am Bauernhof Trohl bietet sich für die Kinder eine gute Bademöglichkeit, die Wassertiefe gestattet es jedoch nicht, hier das Schwimmen zu erlernen. Der Weg am rechten Ufer des Kanals wird vornehmlich von Erntefahrzeugen genutzt. Pferdegespanne prägen in den unbefestigten Untergrund tiefe Wagengleise, deshalb können Motorfahrzeuge, Radfahrer und sonstige Gefährte nur den befestigten Weg am linken Ufer des Kanals benutzen. Die Häuserreihen links des Kanals sind verwaltungsmäßig der Ortschaft Annenaue, die rechts des Kanals der Ortschaft Lipke zugeordnet. Die benachbarten Ortschaften Lipke, Guscht und Guschterbruch liegen jeweils nur ca. 3 Kilometer auseinander. Unbeschwert sucht man entweder zu Fuß oder mit dem Fahrrad die nächsten Ortsnachbarn oder Verwandten auf, um am gleichen Tag wieder den Rückweg anzutreten.

In der einzigen Gastwirtschaft des Dorfes trifft man sich an den Wochenenden zu einem gemütlichen Plausch oder zu einer Runde Skat, sowie zur Kirmes und zu Schützenfesten.

Bedingt durch die tiefe Lage der Region ist das Gebiet hochwassergefährdet. Es kommt nicht selten vor, dass Anwohner in Schweinetrögen, ausgerüstet mit einem Paddel, ihre Habseligkeiten vor dem blanken Hans in Sicherheit bringen müssen.

Für die Kinder bietet sich in den Wintermonaten nach Gefrieren des Hochwassers eine fast unübersichtliche Eisfläche an, welche zu allerlei Spielen einlädt. Der Schulweg wird abgekürzt, indem man über die zugefrorenen Eisflächen schliddert oder aber mit Schlittschuhen läuft.


Familie Albert Briese im Jahr 1913 , Mutter Bertha, Kinder Otto, Anna und Emma

Das Ehepaar Albert und Berta Briese hat 3 Kinder, Anna, Emma und Otto. Anna und Emma haben in jungen Jahren nach ihrer Ausbildung das Elternhaus verlassen und sich in Dessau, Sachsen / Anhalt, angesiedelt.

Sohn Otto hilft dem Vater in der Landwirtschaft auf dem eigenen Bauernhof. Nach Gründung einer eigenen Familie mit Ehefrau Erna und gemeinsamen Kindern Rosalinde und Otto reicht das karge Einkommen aus dem landwirtschaftlichen Ertrag nicht aus, um die Familie zu ernähren. Ehefrau Erna, Rosalinde und Sohn Otto bewohnen weiterhin das Elternhaus, Vater Otto zieht aus, um für die Familie den notwendigen Unterhalt zu verdienen. Mehrere Arbeitsstellen im Raum Berlin, zuletzt in der Zuckerfabrik Nauen, garantieren ein regelmäßiges Einkommen.

Unbeschwerte Kindheit

Im Kreise der Familie, wo Familiensinn und Zusammengehörigkeitsgefühl an erster Stelle stehen, genießen Rosalinde und Otto eine unbeschwerte Kindheit. Nachbarskinder sind die häufigsten Spielpartner, wachsen gleichzeitig im Dorf mit den Brieses auf und benutzen den gleichen Schulweg. Die Volksschule Annenaue ist ca. 2 Kilometer vom Elternhaus entfernt. Der Schulweg wird zu Fuß zurückgelegt. Besondere Freude macht es den Kindern, wenn der Schulweg im Winter über die zugefrorenen Eisflächen der Bäche und Felder genutzt werden kann. Nasse Füße und nasse Kleidung sind infolge des Einbrechens der manchmal sehr dünnen Eisdecken keine Seltenheit. Nach ein paar strafenden Worten der Eltern ist dann alles wieder im Lot. Das Spielen im Heu und Stroh birgt jedoch eine größere Gefahr, da der Umgang mit Streichhölzern trotz Verbot durch die Eltern sehr reizvoll ist.

Der Nachbarort Lipke als Anlaufpunkt für Einkauf, Behördengänge, ärztliche Betreuung, kulturelle Veranstaltungen usw. kann bequem mit dem Fahrrad erreicht werden und liegt ca. 3-4 Kilometer entfernt. Neben der mit Quadersteinen bepflasterten Straße führt ein fester Sandweg für Fahrräder. Dieser Ort lockt die Kinder zu einigen Ausflügen, welche nicht immer bei den Eltern Zuspruch finden, da verkehrsbedingt auf der Hauptstraße Gefahren drohen.

Im Ort Lipke erleben Jugendliche ihre ersten Filmvorführungen im Ortskino. Filme wie „U-Boote westwärts“ und „Kadetten“ finden zur Zeit großen Zuspruch.

Nicht vergessen ist eine Episode aus frühester Kindheit. Nach einer Veranstaltung auf dem Rummelplatz in Lipke entreißt man dem 3-jährigen Otto gewaltsam einen Luftballon aus den Händen.


Volksschule Annenaue Einschulung 1941, Lehrerin Fräulein Müller

Die Volksschule in Annenaue nimmt auch die schulpflichtigen Kinder aus Lipke/Kanal auf. Die Einschulung mit Schultüte und anschließender Familienzusammenkunft findet im September 1941 leider ohne Anwesenheit des Vaters von Otto statt, welcher seit 1. September 1939 im unseligen Krieg an vorderster Front in einer Pioniereinheit dienen muss. Von der Lehrerin Fräulein Müller sind fast alle ABC-Schützen begeistert, da sie es versteht, neben der schulischen Erziehung auch das andere notwendige Wissen auf unkomplizierte Art und Weise zu vermitteln. Bedingt durch die Kriegseinwirkungen, wovon auch der Ort Lipke nicht verschont bleibt, wird der Unterricht nur bis zum Januar 1945 erteilt.

Eine schreckliche Begegnung auf dem Bahnhof im Nachbarort Guscht, dem Geburtsort von Mutter Erna, bleibt unvergessen.

Sohn Otto hat sich blauen Kopierstift in die Augen gerieben und muss in Begleitung von Mutter Erna einen Arzt in Landsberg/Warthe aufsuchen, welcher nur mit dem Zug erreicht werden kann. Auf dem Bahnsteig erblickt Otto den Gegenzug, welcher gerade einfährt und auf dem Schienenstrang stoppt, auf welchem der Zug nach Landsberg abfahren soll. Es ist ein langer Güterzug mit geschlossenen Waggons, Schiebetüren und kleinen mit Drahtgittern bespannten Fenstern unterhalb der Waggondächer. Hinter diesen Fenstern schauen Menschen mit kahlgeschorenen Köpfen und schmalen ausgehungerten Gesichtern auf den Bahnsteig hinaus. Auf die Frage an Mutter Erna, was diese Menschen getan hätten, dass sie so behandelt werden, bekommt Otto zur Antwort, dass er doch schnell wegschauen möchte. Mutter Erna zieht Otto am Arm und begibt sich in das Bahnhofsinnere, um auf den Zug nach Landsberg zu warten. Viele Jahre später ist allen bewusst, dass es sich um KZ-Häftlinge handelte, welche in die Todeslager abtransportiert wurden.

Unruhe aus dem Osten

Im Rahmen der Kriegshandlungen an der Ostfront im Winter 1944/1945 ist in der Region Kreis Landsberg/ Warthe bereits eine gewisse Unruhe unter der Bevölkerung zu spüren, welche ihre Ursache im bevorstehenden Rückzug der deutschen Armee sowie des Einzugs der russischen Truppen hat. Tag für Tag findet Flüsterpropaganda statt, dass die russischen Truppen bereits kurz vor Driesen und Schneidemühl stationiert sind, obwohl der Propagandaminister der Nationalsozialisten, Goebbels, immer noch die Unbesiegbarkeit der deutschen Truppen aus dem Volksempfänger (Goebbelsschnauze ) posaunt.


Rosalinde Briese mit Gisela Brauer (Haarschleife) 1941 am Netzedamm Annenaue

Am 31.12.1944 (Silvester) ist Familienbesuch bei Utechs in Guschterbruch angesagt. Mutter Erna und Sohn Otto übernachten bei Utechs. Rosalinde hat z.Zt. eine Anstellung im Rahmen des „ Pflichtjahres“ bei Familie Dr. Müller in Lipke. Ein lautes Klopfen an den verschlossenen Fensterläden holt alle Familienmitglieder am 01.01.1945 gegen 3.00 Uhr aus dem tiefen Schlaf. Ein Nachbar Utechs gibt sehr aufgeregt zur Kenntnis, dass die Russen auf dem weiteren Vormarsch sind und doch jeder Überlegungen anstellen soll, wie er auf beste Art und Weise sein Hab und Gut retten kann. Mutter Erna und Sohn Otto begeben sich unverzüglich mitten in der tiefverschneiten eiskalten Winternacht querfeldein über Äcker und Wiesen auf den Heimweg, um evtl. Vorbeuge zu treffen. Es dauert dann noch etwa 3-4 Wochen, bis die Nachricht zur Wirklichkeit wird. Es herrscht große Unruhe im Dorf, wie man sich beim Einzug der Russen zu verhalten hat. Die Einen meinen, man muss sich eine weiße Armbinde mit einem darauf gestickten roten Sowjetstern anlegen, die Anderen sagen, man soll sich als Frau unbedingt älter aussehend verkleiden.

Flucht

Kurz vor Einzug der russischen Truppen in das Dorf verfällt man in Hektik und aufgeregtes Treiben. Nachbar Schöning bietet Brieses an, auf seinem Milchwagen mittels Pferdegespann Platz zu nehmen, um vor den Russen in Richtung Landsberg/ Warthe zu fliehen. Mutter Erna nimmt diese Einladung an, packt schnell ein paar Habseligkeiten und begibt sich mit Rosalinde und Otto auf den Weg. Weitere Familien kommen auf dem Kastenwagen des Pferdegespannes unter und bedecken sich wie alle anderen mit warmen Decken, da der Winter 1944/1945 sehr kalt ist. Das Pferdegespann zieht durch eisglatte Wege und Straßen bis tief in den späten Abend hinein, im Ort Bergkolonie ca. 15 Kilometer vor Landsberg/Warthe nimmt die Familie Bergmann die Brieses auf, bereitet ein warmes Essen und eine Schlafstatt. Donnerndes Kanonengeräusch weckt alle auf, der Himmel ist hell erleuchtet, und ein ohrenbetäubender Lärm wird zur Gewissheit, dass eine weitere Flucht nicht gelingen kann, da die russischen Truppen bereits die Flüchtenden überholten. Es beginnt die 3-monatige Schlacht bei Küstrin, in der mit Verbissenheit und Großoffensiven um den Erhalt des Brückenkopfes „Oder“ gekämpft wird.

Die Stadt Küstrin wird infolge dieser Kampfhandlungen zu 100 % zerstört. Die Familie Bergmann nimmt die Brieses weiterhin für einige Tage auf. In diesem kleinen Ort bekommt man keine russischen Soldaten zu Gesicht, da dieselben zusehends in die Kampfhandlungen einbezogen sind. An einem ruhigen Tag, die Sonne schmilzt ein Teil des Schnees von den Hängen, begibt man sich erstmalig wieder auf die Straße und beobachtet, wie von den Einwohnern im Schnee versteckte Orden der deutschen Armee (Eiserne Kreuze, Panzerschützenabzeichen und andere Auszeichnungen) wieder ans Tageslicht geraten.


Herta Schöning mit Rosalinde und Otto Briese 1940

Eltern veranlassen die Kinder aus Furcht vor Maßregelungen durch die Russen, nicht mit diesen Abzeichen zu spielen. Die Unruhe, wie der Ort Lipke/ Kanal von dem Einmarsch der Russen in Mitleidenschaft gezogen wurde, lässt alle Beteiligten nicht los. Man entscheidet sich, mit allen geflüchteten Ortsnachbarn wieder in das Dorf zurückzukehren.

Das Pferdegespann nimmt alle geflüchteten Frauen und Kinder wieder auf und begibt sich in Richtung des Flusses Warthe, wo eine Übersetzungsmöglichkeit besteht.

Kurz vor dem Flussufer gibt es den ersten Kontakt mit einem russischen Soldaten, welcher sich dem Pferdegespann nähert und den Gespannführer mit vorgehaltener Kalaschnikow auffordert, anzuhalten. Danach hebt dieser die warmen Decken, unter denen sich die Flüchtenden aneinander kuscheln, hoch und bereichert sich zuerst mit Armbanduhren und Fingerringen. Danach gibt er die Weiterfahrt frei, das Gespann setzt sich in Richtung Brückenübergang in Bewegung. Schon aus einiger Entfernung nimmt man zur Kenntnis, dass die Brücke gesprengt ist und ein Übersetzen zunächst unmöglich erscheint.

Der Fluss trägt jedoch dickes Eis, parallel zur gesprengten Brücke befindet sich eine von den Russen montierte, auf dem Eis liegende Holzüberfahrt. Einige Pferdewagen passieren bereits diese Überfahrt, nachfolgende Gespanne drängen, es gibt kein Zurück und jeder Fahrzeugführer ist gezwungen, den voraus fahrenden Gefährten zu folgen. Die Abfahrt vom Flussufer zur Holzbrücke ist sehr steil, der Wagen rutscht infolge der noch bestehenden Eisfläche den Hang hinunter, der Wagenführer kann denselben jedoch geschickt auf die Einfahrt der Holzbrücke lenken. Die Angst, auf dem Eis einzubrechen, ist riesengroß. Alle Mitfahrenden zittern und weinen. Doch unbeschadet erreicht man das andere Ufer. Auf dem weiteren Heimweg in unseren Heimatort bemerken wir, dass mehrere Pferdegespanne in überschwemmte, mit Eis überzogene Felder bis zur Achse und tiefer eingebrochen und von den Flüchtenden verlassen sind. Es ist ein Blick des Grauens, und man sieht, wie die Flüchtenden über das Eis mit ihren wenigen Habseligkeiten weiterziehen. Unser Gespann hat jedoch noch immer Boden unter den Füssen und so gelangen wir am späten Abend im fast ausgestorbenen Ort Lipke und danach in unserem Heimatort an.

Die Familie Schöning nimmt uns für eine Nacht auf, da wir uns nicht getrauen, in der Dunkelheit unser Haus zu betreten. Am anderen Morgen besichtigt unsere Mutter die elterliche Wohnung. Es bietet sich ein Anblick des Schreckens. Im Schlafzimmer ist der große Spiegel im Kleiderschrank völlig zertrümmert, auf dem Wohnzimmertisch liegt ein Hammer, daneben zerschlagene Einweckgläser. Früchte, Fruchtsaft und Glasscherben liegen zerstreut auf der Tischdecke umher. Kopfkissen und Deckbetten sind aufgerissen, ein Teppich von Bettfedern bedeckt den Fußboden im Schlafzimmer. Trotz aller Beschädigungen durch die russischen Truppen muss das normale Leben wieder seinen Einzug halten. So gelingt es uns, unter Mithilfe von Nachbarn und unserem Großvater, alles wieder so gut wie möglich herzurichten.

Beim Spielen auf der Dorfstraße und am Kanal finden wir denselben Nachlass aus der nationalsozialistischen Zeit vor wie nach der Schneeschmelze im Ort Bergkolonie. Auf dem Grund des Kanals, zwischen Fischkraut und Algen, liegen mehrere Hakenkreuzfahnen, welche die Einwohner aus Angst vor Repressalien durch die Russen hineinwerfen. Auch Orden und Ehrenzeichen spiegeln sich im klaren Wasser wider.

Nachdem sich das Leben wieder einigermaßen normalisiert, beginnt man, Habseligkeiten, Wertsachen, Kleidungsstücke usw. vor den Russen zu verstecken. Die Einwohner finden die originellsten Verstecke in ihrer Umgebung. So werden Orte wie Heuboden, Stallungen, Kamine, Dachboden und Gebüsch ausgewählt. Urkunden, Dokumente, Sparkassenbücher und Bargeld werden in Einweckgläsern verwahrt und im Erdboden vergraben. Frauen sticken für die Einwohner auf weißen Armbinden mit roten Wollfäden Sowjetsterne, vermeintlich, um nicht in die Missgunst der russischen Soldaten zu gelangen. Frauen schließen sich abends zusammen und suchen Verstecke in Heuböden und Stallungen auf, um einer Vergewaltigung durch russische Soldaten zu entgehen. Ebenfalls werden Verkleidungen von den Frauen vorgenommen, um älter auszusehen. So setzt man sich Brillen auf und bindet Kopftücher um.

Der 28. Februar 1945. Otto hat sein 10. Lebensjahr vollendet. Vom Vater noch keine Nachricht aus dem Krieg, letztes Lebenszeichen Feldpostbrief vom November 1944 aus den Karpaten/Rumänien. Mutter Erna hat eine Torte mit einer geschmückten und aufgespritzten 10 zubereitet.

Zu Gast sind auch 6-7 Frauen aus Landsberg/Warthe, welche im Auftrag der russischen Armee quer über die Höfe und Wege Schützengräben ausheben müssen, um einen Angriff der deutschen Truppen Einhalt zu gebieten. Die russische Armee hat Bedenken, von der deutschen Armee wieder zurückgeschlagen zu werden.

Diese und andere Frauen sind bei den Dorfbewohnern einquartiert. Der Schreck liegt meiner Mutter Erna noch mehrere Tage in den Gliedern, als eines Tages ein russischer LKW vorfährt und das Motorrad unseres Vaters, es ist eine Fichtel & Sachs, entführt und an einer Leine angebunden hinter dem LKW hinterher schleift. Das Leben inmitten einer immerwährenden Unruhe geht trotzdem weiter. Als Kinder leben wir ohnehin unbeschwert, Schulunterricht wird nicht mehr erteilt, das Frühjahr steht bevor und alles nimmt seinen Lauf.

Eines Tages wird Großvater Albert ohne Ankündigung von den Russen abgeholt, er ist 66 Jahre alt, eine Aussonderung ergibt, dass er nicht mehr arbeitsfähig ist. Bald bemerken wir, dass sich die Russen so langsam zurückziehen und die Hoheitsgewalt an die Polen übertragen. Die Russen haben mit ihren Kampfhandlungen hinsichtlich der Einnahme von Berlin mehr zu tun, als sich um uns Dorfbewohner zu kümmern. Es taucht ein Pole namens Matuszewsky auf, welcher sich anstellt, als ist er der Ordnungshüter des Dorfes. Er besucht alle Einwohner und gibt sich als Verwalters des Ortes aus. Nachdem sich am 2. August 1945 entschieden hat, wer demnächst die Hoheitsgewalt über Deutschland ausübt, erhält Matuszewsky alle Vollmachten über unseren Ort. Diese nimmt er auch wahr und setzt Landwirte und alle Einwohner unter Druck. Einzelheiten können nur noch Lebende, seinerzeit Erwachsene, vermitteln.

Vertreibung

Am 2. August 1945 besiegeln die Siegermächte des 2. Weltkrieges, die USA, Großbritannien und die Sowjetunion das Potsdamer Abkommen und stellen somit die Gebiete jenseits der Oder und Neiße unter polnische Verwaltung und ermöglichen somit die Vertreibung der deutschen Bevölkerung. So ist auch unsere Heimat Ostbrandenburg mit einer Fläche von 11300 Quadratkilometer neben Ostpreußen, Pommern und Schlesien mit einbezogen.

Es ist ein schöner Sommertag, nämlich der 1. Juli 1945, unsere Mutter Erna deckt gerade den Mittagstisch mit Bratkartoffeln und Spiegelei, da steht ohne Voranmeldung Matuszewsky mit vorgehaltener Pistole in der Tür und fordert uns unmissverständlich auf, unser Anwesen innerhalb von 20 Minuten zu verlassen. Große Aufregung, Erschütterung und Wut kommt über uns, sofort ergreift Mutter Erna die Initiative und packt einige Kleidungsstücke, Dokumente und Esswaren ein. Die Wehrlosigkeit macht uns mutlos, es besteht keine Chance, sich dieser Aufforderung zum Verlassen des Heims zu widersetzen. Großvater Albert und seine Lebensgefährtin Frieda werden ebenso bedroht wie andere Nachbarn, mit denen wir uns in der kurzen zur Verfügung stehenden Zeit noch verständigen können. Albert holt aus dem Holzschuppen einen kleinen Handwagen, auf dem wir unser Hab und Gut unterbringen. Nach Ablauf der 20 Minuten Zeitvorgabe erscheint Matuszewsky wiederum mit der Pistole in der Hand und fordert uns auf, ihm den Haustürschlüssel zu übergeben. Er begründet dies damit, die Russen sollen keine Möglichkeit haben, unser Haus zu plündern. Mutter Erna übergibt unfreiwillig den Haustürschlüssel, Matuszewsky entfernt sich, offensichtlich, um alle Haustürschlüssel der Dorfbewohner zu vereinnahmen. Diesen Moment nutzt Schwester Rosalinde aus, um ungehindert durch das noch offen stehende Wohnzimmerfenster zu gelangen und einige Kleidungsstücke heraus zu holen.

Nach kurzer Zeit begeben sich alle Dorfbewohner, Frauen, Kinder, ältere Männer und Behinderte mit ihren gepackten Habseligkeiten auf die Dorfstraße, um den weiteren Anweisungen zu folgen. Danach erscheint Matuszewsky erneut und fordert die Versammelten auf, sich in Richtung Lipke in Bewegung zu setzen. In den Familien bricht große Panik aus, wo Kranke und Gebrechliche auf Mithilfe ihrer Angehörigen angewiesen sind. Diese bedauernswerten Menschen haben keine Möglichkeit, ihren Angehörigen zu folgen. So sitzt Großvater Teschner in seinem Korbsessel unter einem Kastanienbaum an der Dorfstraße und muss tatenlos zusehen, wie seine Tochter und Schwiegersohn, getrieben von Matuszewsky, Haus und Hof verlassen müssen. Er bleibt für immer zurück und hat sicher aus Wut, Hass und Gram sein Leben beendet. Matuszewsky begleitet den Treck bis Lipke und übergibt die Befehlsgewalt an andere polnische Aufseher und Begleiter. Spät abends, Mutter Erna und Schwester Rosalinde verstecken unterwegs noch ihre wenigen Schmucksachen im Gepäck, trifft der Treck im Ort Exprange ein. Dort kommt man in einem verlassenen Haus unter, welches vorher bereits von anderen Vertriebenen als Schlafunterkunft genutzt wurde. Am nächsten Morgen setzt sich der Treck weiter in Richtung Landsberg/ Warthe in Bewegung.

So lange uns die Füße tragen marschieren wir in Begleitung der polnischen Aufseher weiter, bis wir abends müde und ausgehungert die nächste Unterkunft aufsuchen. So geht es Tag für Tag weiter, ohne zu wissen, wo man die nächste Schlafgelegenheit findet. Es bieten sich immer wieder bereits genutzte Schlafstätten von durchgezogenen Vertriebenen an. In Scheunen, Schuppen, Straßengräben, unter Brücken und in Kornfeldern legt man sich nieder, um Kraft für den nächsten Tag zu schöpfen. Es ist ja nicht nur der beschwerliche Weg zu Fuß zurückzulegen, der Handwagen, welcher immer brüchiger wird, ist ja ebenfalls mitzuziehen. Zusätzlich hat jeder noch einen Rucksack zu tragen. Menschenschicksale sind an der Tagesordnung.

Kranke und Gebrechliche, welche von den Angehörigen auf dem Handwagen mitgeführt werden, brechen so zusammen, dass diese entweder den Tod erleiden oder am Straßenrand sitzen bleiben.

Angehörige, welche kein Gefährt mit sich führen, lassen diese meist alten Menschen sich selbst überlassen zurück, um nicht den Anschluss an den immer noch von den Polen begleiteten Treck zu verlieren. Täglich bietet sich ein trauriger Anblick, ein Lebensschock für Kinder und Erwachsene. Die polnischen Aufseher und Treckbegleiter haben es sehr eilig, uns bis an die Oder zu schleusen.

Hunger und Schwäche treibt die Menschen zu den eigenartigsten Taten an, um die Überlebenschance zu wahren. So werden unreife Kartoffeln aus den Feldern geborgen, ein paar Steine aufgebaut und diese in einer Feuerglut geröstet. Man legt weiteren Nahrungsvorrat an, in dem man die kalten Kartoffeln für den nächsten Tag aufbewahrt. Kalte geröstete Kartoffeln sowie ungereifte grüne Äpfel sind das einzige Nahrungsmittel, mit denen sich die Vertriebenen aufrecht halten können.

Große Aufregung bei Schwalowskys, Verwandte von Mutter Erna, als eines Tages der bisher mitgeführte kleine Spitz nicht mehr auftaucht. Man kann sich an den fünf Fingern abzählen, auf welche Art und Weise dieser Hund abhanden gekommen ist. Es ist nicht nachvollziehbar in wessen Magen er verschwand. Man nähert sich dem Fluss Oder und meint, nachdem der Ort Küstrin passiert ist, alles wird besser und bequemer. Nach Erreichen des Ortes Küstrin sieht man zum ersten Mal das Grauen und die Folgen des schrecklichen Krieges. Ohne Ausnahme sind alle Gebäude durch Bomben-und Granateneinwirkung sowie durch sonstige Kriegsgeräte zerstört, die Ruinen aller Häuser, Schulen und sonstige Gebäude ragen gespenstisch in den Himmel, es bietet sich ein Anblick des Schreckens. Durch die schmalen, mit Schutt und Asche bedeckten Straßen begleiten uns die Polen weiterhin, in der Hoffnung, uns bald sich selbst überlassen zu können.

An einer Straßenkreuzung inmitten abstürzender Ruinen treibt uns eine russische Offizierin, mit viele Orden und Ehrenzeichen an der Uniform ausgestattet, vehement mit den Worten, welche heute noch in den Ohren klingen, an: Daweiterfahrt!!! Daweiterfahrt!!! Daweiterfahrt!!! Man hofft nun, bald an die Oderbrücke zu gelangen, um dort übersetzen zu können. Im Laufe der Zeit hat man in Erfahrung gebracht, dass die polnischen Aufseher beabsichtigen, den Treck nur bis an die Oder zu begleiten. Beim Herannahen an die Oderbrücke sieht man schon von weitem, dass dieselbe vollkommen zerstört ist. Auf Veranlassung der Polen verweist man uns in die südliche Richtung, um dort unseren Weg fortzusetzen. Die Kräfte lassen nach, der kleine mit wenigen Habseligkeiten ausgestattete Handwagen löst sich fast auf, immer wieder werden um die Räder Bänder, Draht und sonstige Befestigungsmittel gewickelt, da sich die Eisenreifen von den Holzrädern lösen. Der Rucksack wird schwerer, der Hunger grösser, ein Tagesziel ist noch nicht zu erkennen.

Endlich gelangt man nach einigen Tagen an eine in der Nähe des Ortes Reitwein provisorisch angelegte Holzbrücke, welche über die Oder führt. Beim Überqueren der Brücke entledigt man sich der letzten kalten Kartoffel, welche man den Fluten überlässt. Die Abneigung gegen eine solche dauernde Nahrung ist so groß, dass man den Verlust nicht beklagt und somit den Hunger ein wenig überwindet.

Die Brücke endet an einem steilen Abhang, so dass man beim Hinunterfahren einen Halt in der Böschung suchen muss, um nicht kopfüber hinunter zu stürzen. Nachbar Trohl hat um seine mit Habseligkeiten beladene Schubkarre einen Riemen um Schulter und Karre gewunden, um die Last auf Arme und Schulter gleichmäßig zu verteilen. Beim Abstieg an der Uferböschung kann er die Last nicht mehr halten, die Karre zieht ihn hinunter. Dabei überschlägt sich Mann und Karre mehrmals, so dass Trohl verletzt unten liegen bleibt.

Das Elend nimmt kein Ende.

In einem Straßengraben liegt ein mit Fliegen bedeckter verstorbener älterer Mann, am Ufer eines Weihers liegt eine Frau halb im Wasser und schreit: „Nehmt mich mit, nehmt mich mit!!!, meine Kinder haben mich hier liegen lassen.“ Erinnerungen, welche man im Leben niemals vergisst. Auf dem weiteren Weg, nun uns selbst überlassen, erreicht man den Ort Reitwein, verlassen, zerstört, verdreckt. In einem verlassenen Wohnhaus findet man Unterkunft und Schlafgelegenheit, sobald man unter diesen Umständen von Schlaf überhaupt sprechen kann.

Das Ziel ist nunmehr eindeutig Berlin, da Verwandte dort beheimatet sind. Jedoch ist eine Orientierung für die weitere Wegstrecke zunächst unmöglich, da einmal Hinweisschilder und Straßen durch Kriegseinwirkungen zerstört sind und zum anderen niemand im Ort aufzuspüren ist, um uns den Weg zu weisen. So gelangt man an einen russischen Soldatenfriedhof, Gräber sind mit Granaten aller Kaliber umrahmt, welche mit der Spitze nach oben zeigen. Erstmalig erhält man einen Eindruck von dieser todgefährlichen Kriegsmunition, ehrfurchtsvoll verlässt man diesen Ort, um sich weiter in Richtung Berlin zu orientieren.

Man gelangt an eine Panzerstraße, welche mit dicken Holzbohlen ausgelegt ist. Diese führt auf Nebenstraßen, welche in Richtung des Ortes Seelow hindeuteten. In diesem Ort wird ja bekanntlich die letzte große Schlacht vor der Eroberung Berlins ausgetragen, bei der Tausende Soldaten ums Leben kommen. Umgestürzte zerstörte Panzer, Kanonen und anderes Kriegsmaterial beherrschen das Landschaftsbild. Flakabwehrgeschütze als Attrappen (schräg aufgestellte Holzwände mit in den Himmel ragenden eingefügten Baumstämmen) sollen den Feind täuschen.

An einer Straßenkreuzung erhält man von den Einwohnern einen Blechteller mit warmer Suppe.

Auf dem weiteren Weg nach Berlin lässt man sich nun nicht mehr aufhalten, das Ziel erscheint immer näher. Mit der Hoffnung, die Verwandten dort heil anzutreffen, begibt man sich mit letzter Kraft auf den weiteren beschwerlichen Weg. Man passiert dann bald den Ort Müncheberg, wiederum sind Ortseinwohner bemüht, die Menschen aus dem Treck mit heißem Tee und Essen zu versorgen. Mit vielen Leidgenossen nimmt man danach den weiteren Weg auf, mit Rucksack und Handbeutel beladen, der Handwagen hat sich schon längst in Einzelteile aufgelöst.

Man hat sich bereits einiger weiterer entbehrbarer Habseligkeiten entledigt, diese in den Straßengräben geworfen, um Kräfte für den weiteren Weg zu sparen. Am Ortseingang Marzahn kommt uns das Glück zur Hilfe. In einer langen Warteschlange bei einem Bäcker steht Mutter Ernas Cousine Elly und beobachtet, wie sich der Treck mit vielen hunderten Menschen auf Berlin zu bewegt. Sie erblickt uns, kommt auf uns zu, ist überrascht und sprachlos zugleich, bricht in Freudentränen aus und zeigt tiefes Mitgefühl für unser bisheriges Leid. Man fällt sich in die Arme und ist überglücklich, einen bekannten Menschen bei sich zu haben, mit dem wir unsere Sorgen teilen können. Für einige Tage nimmt uns Elly in ihrer kleinen, vom Krieg nicht zerstörten Wohnung auf. Sie setzt sich umgehend mit Richard Schwalowsky, Bruder von Mutter Erna, in Verbindung und teilt ihm unsere Anwesenheit mit.

Onkel Richard, Inhaber eines kleinen Getränkehersteller- Unternehmens, kommt nach einigen Tagen mit seinem Dreirad- Auto nach Marzahn und holt uns mit unseren wenigen noch verbliebenen Gepäckstücken ab. Er hat sein Anwesen in Berlin-Charlottenburg, wir fahren quer durch das völlig zerstörte Berlin, der Eindruck der gespenstisch in den Himmel ragenden Ruinen bleibt unvergesslich. Zum ersten Mal passiere ich in meinem Leben (und dies auf der Ladefläche eines Auto-Dreirades) das Brandenburger Tor, die Straße „Unter den Linden“ sowie die Siegessäule. Angekommen in der Richard-Wagner-Str. in Charlottenburg nimmt uns die Familie Richard Schwalowsky wieder für einige Tage auf. Weitere Verwandte aus unserer Familie haben bereits Zuflucht bei Schwalowskys gefunden. Sie organisieren für alle eine Schlafstatt und versorgen uns mit den notwendigen Nahrungsmitteln zum Überleben. Das Ziel unseres beschwerlichen Weges ist jedoch die Stadt Dessau/Anhalt, da wir vom Glauben besessen sind, dort unseren Vater Otto bei seinen beiden Schwestern Anna und Emma nach der Rückkehr aus dem Krieg wiederzufinden. Wir begeben uns nach einigen Tagen auf die Reise, dieses Mal mit dem Zug vom Lehrter Bahnhof in Richtung Dessau.

Bedingt durch die Kriegseinwirkungen findet jedoch kein regelmäßiger Zugverkehr statt. Nach langem Warten auf dem Bahnsteig fährt ein bereits voll besetzter Personenzug endlich ein, man hat große Mühe, noch einen Stehplatz zu finden. Menschen drängen sich mühevoll in die Abteile und Gänge. Trittbretter und Puffer werden als Mitfahrgelegenheit genutzt, die Menschen setzen sich der Gefahr aus, bei fahrendem Zug hinunter zu fallen. Nach einigen Stunden Fahrtzeit angekommen in Rosslau/ Elbe ist Endstation. Ursache ist die vollkommen zerstörte Elbebrücke, ein Überqueren auch zu Fuß ist ausgeschlossen. Und dies 6 Kilometer vor dem eigentlichen Ziel Dessau/ Anhalt.

Es spricht sich herum, dass die Elbebrücke in Wittenberg/ Lutherstadt nicht zerstört ist und sich dort eine Möglichkeit bietet, über Bitterfeld nach Dessau zu gelangen. Der Zug nach Wittenberg, ebenfalls wieder überbesetzt, bringt uns wohlbehalten in Wittenberg/ Hauptbahnhof an. Der Anschlusszug nach Bitterfeld lässt nicht lange auf sich warten, Menschen mit Rucksäcken, Taschen, Beuteln und sonstigem Hab und Gut drängen und quetschen sich wiederum auf Trittbrettern und Puffern des Personenzuges, um endlich die Weiterfahrt antreten zu können. Viele Menschen bleiben jedoch auf dem Bahnsteig zurück, in der Hoffnung, eventuell mit dem Einfahren des nächsten Zuges einen Platz zu ergattern. Die Einfahrt in den Bitterfelder Bahnhof bleibt jedoch versagt. Kurz vor der Muldebrücke, in der Nähe von Friedersdorf, stoppt der Zug. Grund ist, dass die russischen Besatzungsbehörden keinen Menschentransport über die Mulde nach Bitterfeld ohne ihre Erlaubnis dulden. Alle Menschen werden aufgefordert, die Abteile sowie den Zug zu verlassen. Nunmehr ist man wieder sich selbst überlassen, ausgesetzt, verachtet und nicht geduldet. Man schließt sich einer Gruppe Menschen an, welche beabsichtigen, quer über Wiesen und Felder entlang des Muldeufers die Ortschaft Friedersdorf aufzusuchen. Nach einer Stunde Fußweg über nasse Wiesen und Gestrüpp erreicht man völlig erschöpft den kleinen Ort Friedersdorf bei Bitterfeld. Man sammelt sich auf dem Dorfplatz, um notwendige weitere Informationen zu erhalten.

Durch einen Sprecher der Einwohner werden wir informiert, dass die russische Besatzungsbehörde Passierscheine für die Überquerung der Mulde ausstellt. Hunderte von Menschen stehen in einer Schlange an, um in den Besitz eines Passierscheines zu gelangen. Mutter Erna gelingt es an diesen späten Abend nicht mehr, eine solchen zu erhalten. Eine freundliche Familie aus dem Ort bietet uns als Schlafstatt die Wachküche auf dem Hof an und versorgt uns mit Nahrungsmitteln. Man ist sehr froh, noch vor Einbrechen der Dunkelheit eine Unterkunft gefunden zu haben. Am nächsten Morgen gelingt es Mutter Erna, den Passierschein zu erhalten. Man begibt sich über eine provisorisch angelegte Holzbrücke auf dem Weg nach Bitterfeld, mit dem Ziel Hauptbahnhof, um dort einen Zug nach Dessau zu erreichen. Am Ortseingang Bitterfeld passieren wir einen Bäckerladen, wir erhalten ein Brot, welches uns die Inhaberin kostenlos überlässt. Danach verabschieden wir uns von unseren bisherigen Mitbegleitern.

Tante Frieda Mertins und deren Sohn Rudi, welche sich als Ziel Sötern im Saarland gewählt haben, da dort ihre Töchter Ilse und Traude ansässig sind, suchen nach einer Zugverbindung in diese Richtung. Nach Erreichen des Hauptbahnhofes Bitterfeld nehmen wir den Personenzug nach Dessau. Angekommen am Dessauer Bahnhof bietet sich ein schreckliches Bild. Auf den Bahnsteigen liegen Trümmerteile umher, allerlei zerstörte Bahngleise, Lampen und weitere Bahnhofausstattungen. Um nach Aussteigen aus dem Zug auf den Bahnhofsvorplatz zu gelangen, müssen Schutt-und Trümmerberge überwunden werden. Es beginnt nun die Suche nach unseren Angehörigen. Die Adresse Friederikenstr. Nr. 20 ist uns wohl bekannt, jedoch hat man bedingt durch die unübersehbaren Trümmerberge jegliche Orientierung verloren. Wir nehmen eine Hauptrichtung und treffen auf einen Ortspolizisten, welcher uns den Weg weist.

Schon beim Erreichen der Friederikenstr. sehen wir bereits, dass ausnahmslos alle Häuser in Schutt und Asche liegen.

Entsetzt und erschöpft zugleich denken wir dies ist das Ende unserer langen Reise. An einem Mauerrest des Hauses Nr. 20 entdecken wir jedoch einen mit weißer Kreide gezogenen Schriftzug „ Wir leben noch, wohnen Hallesche Str. Nr. 30a“ Langsam sinkt die Mutlosigkeit und mit allerletzter Kraft begibt man sich auf die Suche nach dieser Adresse. Dabei hilft wiederum ein Streifenpolizist. Unsere Angehörigen, mit denen wir uns weder auf dem Postweg noch mittels Telefon verständigen können, nehmen uns auf und sind froh, dass wir diese Flucht und Vertreibung überstanden haben. So bewohnen wir anfangs eine kleine Wohnung gemeinsam mit Tante Emma, welche ausgebombt ist und Zuflucht bei ihrer Schwester Anna findet, mit Onkel Karl und dem Ehepaar Grigo.

Jugend in Trümmern

Nach einigen Tagen völliger Erschöpfung erfährt man Ruhe und Geborgenheit und sammelt erste Eindrücke von der neuen Umgebung. Zunächst ist die Unterbringungsfrage zu klären, denn 8 Personen in einer kleinen Zweizimmerwohnung ist nicht zuzumuten, eine ständige Wohngemeinschaft aufrecht zu erhalten. So ergibt sich bald eine kleine, aber dennoch befriedigende Lösung, indem Schwester Rosalinde eine Anstellung mit Unterkunft in der Gaststätte „Tornauer Hof „ bei der Familie Behnke findet.

Tante Emma gelingt es, beim Schneidermeister Bajohr in der Tornauer Str. ein Zimmer als Untermieterin zu beziehen. Den noch verbliebenen 6 Personen, Tante Anna, Onkel Karl, Ehepaar Grigo, Mutter Erna und Sohn Otto reicht die kleine Wohnung aus und alle rücken etwas zusammen. Nachdem man sich nunmehr mit der neuen Lebenssituation abgefunden hat, ist die vordringlichste Aufgabe, die tägliche Versorgung mit Lebensmitteln abzusichern. So findet man allerlei Möglichkeiten, entsprechende Nahrungsmittel zu beschaffen. Onkel Karl‘s Beziehungen und Verbindungen zu Bauern und Bekannten aus dem Raum Gröbzig werden genutzt, um uns mit Waren zu versorgen, welche vielen Menschen derzeit nicht zugänglich sind, zum Beispiel Äpfel, Birnen oder Mehl usw. Im Schlafzimmer befindet sich ein großes Holzfass gefüllt mit Kleie, daraus wird fast täglich Suppe angerichtet, welche manchmal ungesüßt genossen werden muss, da weder Zucker noch Süßstoff vorhanden ist.

Onkel Karl bemüht sich sogleich um die schulische Ausbildung von Otto und schult ihn in die Knabenmittelschule in Dessau, Mauerstr., ein, mit Unterrichtsstoff der 6. Klasse.

Es finden sich unter Mitschülern bald Spielgefährten und Freunde, welche nach Unterrichtsschluss allerlei Dinge ausbaldowerten. So sind zum Beispiel die Ruinen der völlig vom Krieg zerstörten Stadt Dessau ein verlockendes Ziel, um etwa noch Verborgenes aufzuspüren oder in den Trümmern von Haus zu Haus umher zu klettern, ohne um die Gefahren einstürzender Gebälke und Mauerreste zu wissen.

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Auszug aus einer Erzählung von Otto Briese

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Erstellt am 30.08.2016 - Letzte Änderung am 30.08.2016.