„Wege übers Land“
Dort wo flaches, frisch bebautes Ackerland und weite grüne Felder und Wiesen inmitten einer idyllisch gelegenen Landschaft zur Ruhe, Frieden und Eintracht anmuten, wo kleine Gräben in den Nebenfluss der Warthe, der Netze, einmünden, liegt eingebettet in Kiefernwäldern und märkischer Heide das Örtchen Lipke/Kanal in der Neumark im Brandenburger Land. Ein Stück Lebensqualität bietet die frische laue Luft, umgeben von kleinen Anwesen der knapp 100 Einwohner, welche sich ausnahmslos von der Landwirtschaft ernähren.
In diesem Örtchen in der
Neumark, zwischen Landsberg/
Warthe und Schneidemühl
gelegen, hat auch die
Familie Briese ihr Domizil. Sie
bewohnt ein eigenes kleines
Bauernhaus und bewirtschaftet
Grund und Boden mit ungefähr
3 Hektar Gesamtfläche.
Der Ort besteht aus 2 Häuserreihen,
welche durch einen
kleinen, an den Ufern mit
Kräutern und Farnen bewachsenen,
fließenden Wasserkanal
getrennt sind. Fische,
Frösche und Sprotten zieren
den Grund und spiegeln sich
in der Sonne. Von Haus zu
Haus wird der Kanal durch
schmale Holzstege überbrückt,
mit Ausnahme von einigen aus
stabilen Kanthölzern gezimmerten
Brücken für Pferdefuhrwerke
und Erntegeräte.
Die Gehöfte sind jeweils links
und
rechts
durch
wasserführende
Gräben
getrennt,
die Rinnsale
enden im
Kanal.
An den
Grabenrändern
wachsen
vornehmlich
Birken und Ebereschen.
Jeweils an den Pfingstfeiertagen
bietet sich an den
Eingangstüren der einzelnen
Häuser ein schöner Blick.
Birkenstämme und Zweige
zieren den Eingangsbereich
und geben so dem Anwesen
ein festliches Aussehen. An
einer seichten Stelle im Kanal
am Bauernhof Trohl bietet sich
für die Kinder eine gute Bademöglichkeit,
die Wassertiefe
gestattet es jedoch nicht, hier
das Schwimmen zu erlernen.
Der Weg am rechten Ufer
des Kanals wird vornehmlich
von Erntefahrzeugen genutzt.
Pferdegespanne prägen in den
unbefestigten Untergrund tiefe
Wagengleise,
deshalb können
Motorfahrzeuge, Radfahrer
und sonstige Gefährte nur den
befestigten Weg am linken
Ufer des Kanals benutzen.
Die Häuserreihen links des
Kanals sind verwaltungsmäßig
der Ortschaft Annenaue, die
rechts des Kanals der Ortschaft
Lipke zugeordnet.
Die benachbarten Ortschaften
Lipke, Guscht und Guschterbruch
liegen jeweils nur ca.
3 Kilometer auseinander. Unbeschwert
sucht man entweder
zu Fuß oder mit dem Fahrrad
die nächsten Ortsnachbarn
oder Verwandten auf, um am
gleichen Tag wieder den Rückweg
anzutreten.
In der einzigen Gastwirtschaft
des Dorfes trifft man sich an
den Wochenenden zu einem
gemütlichen Plausch oder
zu einer Runde Skat, sowie
zur Kirmes und zu Schützenfesten.
Bedingt durch die tiefe Lage
der Region ist das Gebiet
hochwassergefährdet. Es
kommt nicht selten vor, dass
Anwohner in Schweinetrögen,
ausgerüstet mit einem Paddel,
ihre Habseligkeiten vor dem
blanken Hans in Sicherheit
bringen müssen.
Für die Kinder bietet sich in
den Wintermonaten nach
Gefrieren des Hochwassers
eine fast unübersichtliche
Eisfläche an, welche zu allerlei
Spielen einlädt. Der Schulweg
wird abgekürzt, indem man
über die zugefrorenen Eisflächen
schliddert oder aber mit
Schlittschuhen läuft.
Das Ehepaar Albert und Berta
Briese hat 3 Kinder, Anna,
Emma und Otto. Anna und
Emma haben in jungen Jahren
nach ihrer Ausbildung das
Elternhaus verlassen und sich
in Dessau, Sachsen / Anhalt,
angesiedelt.
Sohn Otto hilft dem Vater in
der Landwirtschaft auf dem eigenen
Bauernhof. Nach Gründung
einer eigenen Familie
mit Ehefrau Erna und gemeinsamen
Kindern Rosalinde und
Otto reicht das karge Einkommen
aus dem landwirtschaftlichen
Ertrag nicht aus, um die
Familie zu ernähren.
Ehefrau
Erna, Rosalinde
und
Sohn Otto
bewohnen
weiterhin
das Elternhaus,
Vater
Otto zieht
aus, um für
die Familie
den notwendigen
Unterhalt zu
verdienen.
Mehrere Arbeitsstellen
im Raum
Berlin, zuletzt
in der
Zuckerfabrik
Nauen,
garantieren
ein regelmäßiges
Einkommen.
Im Kreise der Familie, wo Familiensinn
und Zusammengehörigkeitsgefühl
an erster Stelle
stehen, genießen Rosalinde
und Otto eine unbeschwerte
Kindheit. Nachbarskinder sind
die häufigsten Spielpartner,
wachsen gleichzeitig im Dorf
mit den Brieses auf und benutzen
den gleichen Schulweg.
Die Volksschule Annenaue ist
ca. 2 Kilometer vom Elternhaus
entfernt. Der Schulweg
wird zu Fuß zurückgelegt.
Besondere Freude macht es
den Kindern, wenn der Schulweg
im Winter über die zugefrorenen
Eisflächen der Bäche
und Felder genutzt werden
kann. Nasse Füße und nasse
Kleidung sind infolge des
Einbrechens der manchmal
sehr dünnen Eisdecken keine
Seltenheit. Nach ein paar strafenden
Worten der Eltern ist
dann alles wieder im Lot.
Das Spielen im Heu und Stroh
birgt jedoch eine größere
Gefahr, da der Umgang mit
Streichhölzern trotz Verbot
durch die Eltern sehr reizvoll
ist.
Der Nachbarort Lipke als
Anlaufpunkt für Einkauf, Behördengänge,
ärztliche Betreuung,
kulturelle Veranstaltungen
usw. kann bequem mit dem
Fahrrad erreicht werden und
liegt ca. 3-4 Kilometer entfernt.
Neben der mit Quadersteinen
bepflasterten Straße führt ein
fester Sandweg für Fahrräder.
Dieser Ort lockt die Kinder
zu einigen Ausflügen, welche
nicht immer bei den Eltern
Zuspruch finden, da verkehrsbedingt
auf der Hauptstraße
Gefahren drohen.
Im Ort Lipke erleben Jugendliche
ihre ersten Filmvorführungen
im Ortskino. Filme wie
„U-Boote westwärts“ und „Kadetten“
finden zur Zeit großen
Zuspruch.
Nicht vergessen ist eine Episode
aus frühester Kindheit.
Nach einer Veranstaltung auf
dem Rummelplatz in Lipke
entreißt man dem 3-jährigen
Otto gewaltsam einen Luftballon
aus den Händen.
Die Volksschule in Annenaue
nimmt auch die schulpflichtigen
Kinder aus Lipke/Kanal
auf. Die Einschulung mit
Schultüte und anschließender
Familienzusammenkunft findet
im September 1941 leider
ohne Anwesenheit des Vaters
von Otto statt, welcher
seit 1. September 1939 im
unseligen Krieg an vorderster
Front in einer Pioniereinheit
dienen muss. Von der Lehrerin
Fräulein Müller sind fast
alle ABC-Schützen begeistert,
da sie es versteht, neben der
schulischen Erziehung auch
das andere notwendige Wissen
auf unkomplizierte Art und
Weise zu vermitteln. Bedingt
durch die Kriegseinwirkungen,
wovon auch der Ort Lipke
nicht verschont bleibt, wird der
Unterricht nur bis zum Januar
1945 erteilt.
Eine schreckliche Begegnung
auf dem Bahnhof im Nachbarort
Guscht, dem Geburtsort
von Mutter Erna, bleibt unvergessen.
Sohn Otto hat sich blauen
Kopierstift in die Augen gerieben
und muss in Begleitung
von Mutter Erna einen Arzt
in Landsberg/Warthe aufsuchen,
welcher nur mit dem Zug
erreicht werden kann. Auf dem
Bahnsteig erblickt Otto den
Gegenzug, welcher gerade
einfährt und auf dem Schienenstrang
stoppt, auf welchem
der Zug nach Landsberg
abfahren soll. Es ist ein langer
Güterzug mit geschlossenen
Waggons, Schiebetüren und
kleinen mit Drahtgittern bespannten
Fenstern unterhalb
der Waggondächer. Hinter
diesen Fenstern schauen
Menschen mit kahlgeschorenen
Köpfen und schmalen
ausgehungerten Gesichtern
auf den Bahnsteig hinaus. Auf
die Frage an Mutter Erna, was
diese Menschen getan hätten,
dass sie so behandelt werden,
bekommt Otto zur Antwort,
dass er
doch
schnell
wegschauen
möchte.
Mutter
Erna zieht
Otto am
Arm und
begibt
sich in
das Bahnhofsinnere,
um
auf den
Zug nach
Landsberg zu warten. Viele
Jahre später ist allen
bewusst, dass es sich
um KZ-Häftlinge handelte,
welche in die
Todeslager abtransportiert
wurden.
Im Rahmen der Kriegshandlungen an der Ostfront im Winter 1944/1945 ist in der Region Kreis Landsberg/ Warthe bereits eine gewisse Unruhe unter der Bevölkerung zu spüren, welche ihre Ursache im bevorstehenden Rückzug der deutschen Armee sowie des Einzugs der russischen Truppen hat. Tag für Tag findet Flüsterpropaganda statt, dass die russischen Truppen bereits kurz vor Driesen und Schneidemühl stationiert sind, obwohl der Propagandaminister der Nationalsozialisten, Goebbels, immer noch die Unbesiegbarkeit der deutschen Truppen aus dem Volksempfänger (Goebbelsschnauze ) posaunt.
Am 31.12.1944 (Silvester) ist Familienbesuch bei Utechs in Guschterbruch angesagt. Mutter Erna und Sohn Otto übernachten bei Utechs. Rosalinde hat z.Zt. eine Anstellung im Rahmen des „ Pflichtjahres“ bei Familie Dr. Müller in Lipke. Ein lautes Klopfen an den verschlossenen Fensterläden holt alle Familienmitglieder am 01.01.1945 gegen 3.00 Uhr aus dem tiefen Schlaf. Ein Nachbar Utechs gibt sehr aufgeregt zur Kenntnis, dass die Russen auf dem weiteren Vormarsch sind und doch jeder Überlegungen anstellen soll, wie er auf beste Art und Weise sein Hab und Gut retten kann. Mutter Erna und Sohn Otto begeben sich unverzüglich mitten in der tiefverschneiten eiskalten Winternacht querfeldein über Äcker und Wiesen auf den Heimweg, um evtl. Vorbeuge zu treffen. Es dauert dann noch etwa 3-4 Wochen, bis die Nachricht zur Wirklichkeit wird. Es herrscht große Unruhe im Dorf, wie man sich beim Einzug der Russen zu verhalten hat. Die Einen meinen, man muss sich eine weiße Armbinde mit einem darauf gestickten roten Sowjetstern anlegen, die Anderen sagen, man soll sich als Frau unbedingt älter aussehend verkleiden.
Kurz vor Einzug der russischen
Truppen in das Dorf
verfällt man in Hektik und
aufgeregtes Treiben. Nachbar
Schöning bietet Brieses
an, auf seinem Milchwagen
mittels Pferdegespann Platz
zu nehmen, um vor den Russen
in Richtung Landsberg/
Warthe zu fliehen. Mutter Erna
nimmt diese Einladung an,
packt schnell ein paar Habseligkeiten
und begibt sich mit
Rosalinde und Otto auf den
Weg. Weitere Familien kommen
auf dem Kastenwagen
des Pferdegespannes unter
und bedecken sich wie alle
anderen mit warmen Decken,
da der Winter 1944/1945 sehr
kalt ist. Das Pferdegespann
zieht durch eisglatte Wege und
Straßen bis tief in den späten
Abend hinein, im Ort Bergkolonie
ca. 15 Kilometer vor
Landsberg/Warthe nimmt die
Familie Bergmann die Brieses
auf, bereitet ein warmes Essen
und eine Schlafstatt. Donnerndes
Kanonengeräusch
weckt alle auf, der Himmel ist
hell erleuchtet, und ein ohrenbetäubender
Lärm wird zur
Gewissheit, dass eine weitere
Flucht nicht gelingen kann, da
die russischen Truppen bereits
die Flüchtenden überholten.
Es beginnt die 3-monatige
Schlacht bei Küstrin, in der mit
Verbissenheit und Großoffensiven
um den Erhalt des Brückenkopfes
„Oder“ gekämpft
wird.
Die Stadt Küstrin wird infolge
dieser Kampfhandlungen zu
100 % zerstört. Die Familie
Bergmann nimmt die Brieses
weiterhin für einige Tage auf.
In diesem kleinen Ort bekommt
man keine russischen
Soldaten zu Gesicht, da
dieselben zusehends in die
Kampfhandlungen einbezogen
sind. An einem ruhigen Tag,
die Sonne schmilzt ein Teil des
Schnees von den Hängen, begibt
man sich erstmalig wieder
auf die Straße und beobachtet,
wie von den Einwohnern im
Schnee versteckte Orden der
deutschen Armee (Eiserne
Kreuze, Panzerschützenabzeichen
und andere Auszeichnungen)
wieder ans Tageslicht
geraten.
Eltern veranlassen die Kinder
aus Furcht vor Maßregelungen
durch die Russen, nicht mit
diesen Abzeichen zu spielen.
Die Unruhe, wie der Ort Lipke/
Kanal von dem Einmarsch der
Russen in Mitleidenschaft gezogen
wurde, lässt alle Beteiligten
nicht los. Man entscheidet
sich, mit allen geflüchteten
Ortsnachbarn wieder in das
Dorf zurückzukehren.
Das Pferdegespann nimmt
alle geflüchteten Frauen und
Kinder wieder auf und begibt
sich in Richtung des Flusses
Warthe, wo eine Übersetzungsmöglichkeit
besteht.
Kurz vor dem Flussufer gibt es
den ersten Kontakt mit einem
russischen Soldaten, welcher
sich dem Pferdegespann
nähert und den Gespannführer
mit vorgehaltener Kalaschnikow
auffordert, anzuhalten.
Danach hebt dieser die warmen
Decken, unter denen sich
die Flüchtenden aneinander
kuscheln, hoch und bereichert
sich zuerst mit Armbanduhren
und Fingerringen. Danach gibt
er die Weiterfahrt frei, das Gespann
setzt sich in Richtung
Brückenübergang in Bewegung.
Schon aus einiger Entfernung
nimmt man zur Kenntnis, dass
die Brücke gesprengt ist und
ein Übersetzen zunächst unmöglich
erscheint.
Der Fluss trägt jedoch dickes
Eis, parallel zur gesprengten
Brücke befindet sich eine von
den Russen montierte, auf
dem Eis liegende Holzüberfahrt.
Einige Pferdewagen
passieren bereits diese Überfahrt,
nachfolgende Gespanne
drängen, es gibt kein Zurück
und jeder Fahrzeugführer ist
gezwungen, den voraus fahrenden
Gefährten zu folgen.
Die Abfahrt vom Flussufer
zur Holzbrücke ist sehr steil,
der Wagen rutscht infolge der
noch bestehenden Eisfläche
den Hang hinunter, der Wagenführer
kann denselben jedoch
geschickt auf die Einfahrt
der Holzbrücke lenken. Die
Angst, auf dem Eis einzubrechen,
ist riesengroß. Alle Mitfahrenden
zittern und weinen.
Doch unbeschadet erreicht
man das andere Ufer. Auf dem
weiteren Heimweg in unseren
Heimatort bemerken wir, dass
mehrere Pferdegespanne in
überschwemmte, mit Eis überzogene
Felder bis zur Achse
und tiefer eingebrochen und
von den Flüchtenden verlassen
sind. Es ist ein Blick des
Grauens, und man sieht, wie
die Flüchtenden über das Eis
mit ihren wenigen Habseligkeiten
weiterziehen. Unser Gespann
hat jedoch noch immer
Boden unter den Füssen und
so gelangen wir am späten
Abend im fast ausgestorbenen
Ort Lipke und danach in unserem
Heimatort an.
Die Familie Schöning nimmt
uns für eine Nacht auf, da
wir uns nicht getrauen, in der
Dunkelheit unser Haus zu
betreten. Am anderen Morgen
besichtigt unsere Mutter die
elterliche Wohnung. Es bietet
sich ein Anblick des Schreckens.
Im Schlafzimmer ist
der große Spiegel im Kleiderschrank
völlig zertrümmert,
auf dem Wohnzimmertisch
liegt ein Hammer, daneben
zerschlagene Einweckgläser.
Früchte, Fruchtsaft und Glasscherben
liegen zerstreut auf
der Tischdecke umher. Kopfkissen
und Deckbetten sind
aufgerissen, ein Teppich von
Bettfedern bedeckt den Fußboden
im Schlafzimmer. Trotz
aller Beschädigungen durch
die russischen Truppen muss
das normale Leben wieder
seinen Einzug halten. So gelingt
es uns, unter Mithilfe von
Nachbarn und unserem Großvater,
alles wieder so gut wie
möglich herzurichten.
Beim Spielen auf der Dorfstraße
und am Kanal finden wir
denselben Nachlass aus der
nationalsozialistischen Zeit vor
wie nach der Schneeschmelze
im Ort Bergkolonie. Auf dem
Grund des Kanals, zwischen
Fischkraut und Algen, liegen
mehrere Hakenkreuzfahnen,
welche die Einwohner aus
Angst vor Repressalien durch
die Russen hineinwerfen.
Auch Orden und Ehrenzeichen
spiegeln sich im klaren Wasser
wider.
Nachdem sich das Leben wieder
einigermaßen normalisiert,
beginnt man, Habseligkeiten,
Wertsachen, Kleidungsstücke
usw. vor den Russen zu verstecken.
Die Einwohner finden
die originellsten Verstecke in
ihrer Umgebung. So werden
Orte wie Heuboden, Stallungen,
Kamine, Dachboden
und Gebüsch ausgewählt.
Urkunden, Dokumente, Sparkassenbücher
und Bargeld
werden in Einweckgläsern
verwahrt und im Erdboden
vergraben. Frauen sticken
für die Einwohner auf weißen
Armbinden mit roten Wollfäden
Sowjetsterne, vermeintlich, um
nicht in die Missgunst der russischen
Soldaten zu gelangen.
Frauen schließen sich abends
zusammen und suchen Verstecke
in Heuböden und
Stallungen auf, um einer Vergewaltigung
durch russische
Soldaten zu entgehen. Ebenfalls
werden Verkleidungen
von den Frauen vorgenommen,
um älter auszusehen. So
setzt man sich Brillen auf und
bindet Kopftücher um.
Der 28. Februar 1945. Otto hat
sein 10. Lebensjahr vollendet.
Vom Vater noch keine Nachricht
aus dem Krieg, letztes
Lebenszeichen Feldpostbrief
vom November 1944 aus den
Karpaten/Rumänien. Mutter
Erna hat eine Torte mit einer
geschmückten und aufgespritzten
10 zubereitet.
Zu Gast sind auch 6-7 Frauen
aus Landsberg/Warthe, welche
im Auftrag der russischen
Armee quer über die Höfe und
Wege Schützengräben ausheben
müssen, um einen Angriff
der deutschen Truppen Einhalt
zu gebieten. Die russische
Armee hat Bedenken, von der
deutschen Armee wieder zurückgeschlagen
zu werden.
Diese und andere Frauen sind
bei den Dorfbewohnern einquartiert.
Der Schreck liegt meiner Mutter
Erna noch mehrere Tage in
den Gliedern, als eines Tages
ein russischer LKW vorfährt
und das Motorrad unseres
Vaters, es ist eine Fichtel &
Sachs, entführt und an einer
Leine angebunden hinter dem
LKW hinterher schleift.
Das Leben inmitten einer
immerwährenden Unruhe geht
trotzdem weiter. Als Kinder leben
wir ohnehin unbeschwert,
Schulunterricht wird nicht
mehr erteilt, das Frühjahr steht
bevor und alles nimmt seinen
Lauf.
Eines Tages wird Großvater
Albert ohne Ankündigung von
den Russen abgeholt, er ist
66 Jahre alt, eine Aussonderung
ergibt, dass er nicht mehr
arbeitsfähig ist. Bald bemerken
wir, dass sich die Russen so
langsam zurückziehen und die
Hoheitsgewalt an die Polen
übertragen. Die Russen haben
mit ihren Kampfhandlungen
hinsichtlich der Einnahme von
Berlin mehr zu tun, als sich um
uns Dorfbewohner zu kümmern.
Es taucht ein Pole namens
Matuszewsky auf, welcher sich
anstellt, als ist er der Ordnungshüter
des Dorfes. Er besucht
alle Einwohner und gibt
sich als Verwalters des Ortes
aus. Nachdem sich am 2. August 1945
entschieden hat,
wer demnächst die Hoheitsgewalt
über Deutschland
ausübt, erhält Matuszewsky
alle Vollmachten über unseren
Ort. Diese nimmt er auch
wahr und setzt Landwirte und
alle Einwohner unter Druck.
Einzelheiten können nur noch
Lebende, seinerzeit Erwachsene,
vermitteln.
Am 2. August 1945 besiegeln
die Siegermächte des 2.
Weltkrieges, die USA, Großbritannien
und die Sowjetunion
das Potsdamer Abkommen
und stellen somit die Gebiete
jenseits der Oder und Neiße
unter polnische Verwaltung
und ermöglichen somit die
Vertreibung der deutschen
Bevölkerung. So ist auch unsere
Heimat Ostbrandenburg
mit einer Fläche von 11300
Quadratkilometer
neben Ostpreußen,
Pommern und Schlesien
mit einbezogen.
Es ist ein schöner Sommertag,
nämlich der 1. Juli 1945,
unsere Mutter Erna deckt
gerade den Mittagstisch mit
Bratkartoffeln und Spiegelei,
da steht ohne Voranmeldung
Matuszewsky mit vorgehaltener
Pistole in der Tür und
fordert uns unmissverständlich
auf, unser Anwesen innerhalb
von 20 Minuten zu verlassen.
Große Aufregung, Erschütterung
und Wut kommt über
uns, sofort ergreift Mutter Erna
die Initiative und packt einige
Kleidungsstücke, Dokumente
und Esswaren ein. Die Wehrlosigkeit
macht uns mutlos,
es besteht keine Chance,
sich dieser Aufforderung zum
Verlassen des Heims zu widersetzen.
Großvater Albert und
seine Lebensgefährtin Frieda
werden ebenso bedroht wie
andere Nachbarn, mit denen
wir uns in der kurzen zur Verfügung
stehenden Zeit noch
verständigen können. Albert
holt aus dem Holzschuppen
einen kleinen Handwagen,
auf dem wir unser Hab und
Gut unterbringen. Nach Ablauf
der 20 Minuten Zeitvorgabe
erscheint Matuszewsky wiederum
mit der Pistole in der
Hand und fordert uns auf,
ihm den Haustürschlüssel zu
übergeben. Er begründet dies
damit, die Russen sollen keine
Möglichkeit haben, unser
Haus zu plündern. Mutter Erna
übergibt unfreiwillig den Haustürschlüssel,
Matuszewsky
entfernt sich, offensichtlich,
um alle Haustürschlüssel der
Dorfbewohner zu vereinnahmen.
Diesen Moment nutzt
Schwester Rosalinde aus, um
ungehindert durch das noch
offen stehende Wohnzimmerfenster
zu gelangen und einige
Kleidungsstücke heraus zu
holen.
Nach kurzer Zeit begeben sich
alle Dorfbewohner, Frauen,
Kinder, ältere Männer und
Behinderte mit ihren gepackten
Habseligkeiten auf die
Dorfstraße, um den weiteren
Anweisungen zu folgen. Danach
erscheint Matuszewsky
erneut und fordert die Versammelten
auf, sich in Richtung
Lipke in Bewegung zu
setzen. In den Familien bricht
große Panik aus, wo Kranke
und Gebrechliche auf Mithilfe
ihrer Angehörigen angewiesen
sind. Diese bedauernswerten
Menschen haben keine Möglichkeit,
ihren Angehörigen zu
folgen. So sitzt Großvater Teschner
in seinem Korbsessel
unter einem Kastanienbaum
an der Dorfstraße und muss
tatenlos zusehen, wie seine
Tochter und Schwiegersohn,
getrieben von Matuszewsky,
Haus und Hof verlassen müssen.
Er bleibt für immer zurück
und hat sicher aus Wut, Hass
und Gram sein Leben beendet.
Matuszewsky begleitet den
Treck bis Lipke und übergibt
die Befehlsgewalt an andere
polnische Aufseher und Begleiter.
Spät abends, Mutter
Erna und Schwester Rosalinde
verstecken unterwegs noch
ihre wenigen Schmucksachen
im Gepäck, trifft der Treck im
Ort Exprange ein. Dort kommt
man in einem verlassenen
Haus unter, welches vorher
bereits von anderen Vertriebenen
als Schlafunterkunft
genutzt wurde. Am nächsten
Morgen setzt sich der Treck
weiter in Richtung Landsberg/
Warthe in Bewegung.
So lange uns die Füße tragen
marschieren wir in Begleitung
der polnischen Aufseher
weiter, bis wir abends müde
und ausgehungert die nächste
Unterkunft aufsuchen. So
geht es Tag für Tag weiter,
ohne zu wissen, wo man die
nächste Schlafgelegenheit
findet. Es bieten sich immer
wieder bereits genutzte Schlafstätten
von durchgezogenen
Vertriebenen an. In Scheunen,
Schuppen, Straßengräben,
unter Brücken und in Kornfeldern
legt man sich nieder,
um Kraft für den nächsten Tag
zu schöpfen. Es ist ja nicht nur
der beschwerliche Weg zu Fuß
zurückzulegen, der Handwagen,
welcher immer brüchiger
wird, ist ja ebenfalls mitzuziehen.
Zusätzlich hat jeder noch
einen Rucksack zu tragen.
Menschenschicksale sind an
der Tagesordnung.
Kranke und Gebrechliche, welche
von den Angehörigen auf
dem Handwagen mitgeführt
werden, brechen so zusammen,
dass diese entweder den
Tod erleiden oder am Straßenrand
sitzen bleiben.
Angehörige, welche kein
Gefährt mit sich führen, lassen
diese meist alten Menschen
sich selbst überlassen zurück,
um nicht den Anschluss an
den immer noch von den Polen
begleiteten Treck zu verlieren.
Täglich bietet sich ein
trauriger Anblick, ein Lebensschock
für Kinder und Erwachsene.
Die polnischen Aufseher
und Treckbegleiter haben es
sehr eilig, uns bis an die Oder
zu schleusen.
Hunger und Schwäche treibt
die Menschen zu den eigenartigsten
Taten an, um die
Überlebenschance zu wahren.
So werden unreife Kartoffeln
aus den Feldern geborgen, ein
paar Steine aufgebaut und diese
in einer Feuerglut geröstet.
Man legt weiteren Nahrungsvorrat
an, in dem man die kalten
Kartoffeln für den nächsten
Tag aufbewahrt. Kalte geröstete
Kartoffeln sowie ungereifte
grüne Äpfel sind das einzige
Nahrungsmittel,
mit denen
sich die Vertriebenen aufrecht
halten können.
Große Aufregung bei
Schwalowskys, Verwandte von
Mutter Erna, als eines Tages
der bisher mitgeführte kleine
Spitz nicht mehr auftaucht.
Man kann sich an den fünf Fingern
abzählen, auf welche Art
und Weise dieser Hund abhanden
gekommen ist. Es ist nicht
nachvollziehbar in wessen
Magen er verschwand. Man
nähert sich dem Fluss Oder
und meint, nachdem der Ort
Küstrin passiert ist, alles wird
besser und bequemer. Nach
Erreichen des Ortes Küstrin
sieht man zum ersten Mal das
Grauen und die Folgen des
schrecklichen Krieges. Ohne
Ausnahme sind alle Gebäude
durch Bomben-und Granateneinwirkung
sowie durch sonstige
Kriegsgeräte zerstört, die
Ruinen aller Häuser, Schulen
und sonstige Gebäude ragen
gespenstisch in den Himmel,
es bietet sich ein Anblick des
Schreckens. Durch die schmalen,
mit Schutt und Asche
bedeckten Straßen begleiten
uns die Polen weiterhin, in der
Hoffnung, uns bald sich selbst
überlassen zu können.
An einer Straßenkreuzung
inmitten abstürzender Ruinen
treibt uns eine russische
Offizierin, mit viele Orden und
Ehrenzeichen an der Uniform
ausgestattet, vehement mit
den Worten, welche heute
noch in den Ohren klingen, an:
Daweiterfahrt!!! Daweiterfahrt!!!
Daweiterfahrt!!!
Man hofft nun, bald an die
Oderbrücke zu gelangen, um
dort übersetzen zu können.
Im Laufe der Zeit hat man in
Erfahrung gebracht, dass die
polnischen Aufseher beabsichtigen,
den Treck nur bis an die
Oder zu begleiten. Beim Herannahen
an die Oderbrücke
sieht man schon von weitem,
dass dieselbe vollkommen
zerstört ist. Auf Veranlassung
der Polen verweist man uns in
die südliche Richtung, um dort
unseren Weg fortzusetzen.
Die Kräfte lassen nach, der
kleine mit wenigen Habseligkeiten
ausgestattete Handwagen
löst sich fast auf, immer
wieder werden um die Räder
Bänder, Draht und sonstige
Befestigungsmittel gewickelt,
da sich die Eisenreifen von
den Holzrädern lösen. Der
Rucksack wird schwerer, der
Hunger grösser, ein Tagesziel
ist noch nicht zu erkennen.
Endlich gelangt man nach
einigen Tagen an eine in der
Nähe des Ortes Reitwein
provisorisch angelegte Holzbrücke,
welche über die Oder
führt. Beim Überqueren der
Brücke entledigt man sich der
letzten kalten Kartoffel, welche
man den Fluten überlässt. Die
Abneigung gegen eine solche
dauernde Nahrung ist so groß,
dass man den Verlust nicht
beklagt und somit den Hunger
ein wenig überwindet.
Die Brücke endet an einem
steilen Abhang, so dass man
beim Hinunterfahren einen
Halt in der Böschung suchen
muss, um nicht kopfüber
hinunter zu stürzen. Nachbar
Trohl hat um seine mit Habseligkeiten
beladene Schubkarre
einen Riemen um Schulter
und Karre gewunden, um die
Last auf Arme und Schulter
gleichmäßig zu verteilen. Beim
Abstieg an der Uferböschung
kann er die Last nicht mehr
halten, die Karre zieht ihn hinunter.
Dabei überschlägt sich
Mann und Karre mehrmals,
so dass Trohl verletzt unten
liegen bleibt.
In einem Straßengraben liegt
ein mit Fliegen bedeckter
verstorbener älterer Mann,
am Ufer eines Weihers liegt
eine Frau halb im Wasser
und schreit: „Nehmt mich
mit, nehmt mich mit!!!, meine
Kinder haben mich hier liegen
lassen.“
Erinnerungen, welche man im
Leben niemals vergisst.
Auf dem weiteren Weg, nun
uns selbst überlassen, erreicht
man den Ort Reitwein, verlassen,
zerstört, verdreckt. In
einem verlassenen Wohnhaus
findet man Unterkunft und
Schlafgelegenheit, sobald man
unter diesen Umständen von
Schlaf überhaupt sprechen
kann.
Das Ziel ist nunmehr eindeutig
Berlin, da Verwandte dort beheimatet
sind. Jedoch ist eine
Orientierung für die weitere
Wegstrecke zunächst unmöglich,
da einmal Hinweisschilder
und Straßen durch Kriegseinwirkungen
zerstört sind und
zum anderen niemand im Ort
aufzuspüren ist, um uns den
Weg zu weisen. So gelangt
man an einen russischen
Soldatenfriedhof, Gräber sind
mit Granaten aller Kaliber umrahmt,
welche mit der Spitze
nach oben zeigen. Erstmalig
erhält man einen Eindruck
von dieser todgefährlichen
Kriegsmunition, ehrfurchtsvoll
verlässt man diesen Ort, um
sich weiter in Richtung Berlin
zu orientieren.
Man gelangt an eine Panzerstraße,
welche mit dicken
Holzbohlen ausgelegt ist.
Diese führt auf Nebenstraßen,
welche in Richtung des Ortes
Seelow hindeuteten. In diesem
Ort wird ja bekanntlich die
letzte große Schlacht vor der
Eroberung Berlins ausgetragen,
bei der Tausende Soldaten
ums Leben kommen.
Umgestürzte zerstörte Panzer,
Kanonen und anderes Kriegsmaterial
beherrschen das
Landschaftsbild.
Flakabwehrgeschütze als
Attrappen (schräg aufgestellte
Holzwände mit in den Himmel
ragenden eingefügten Baumstämmen)
sollen den Feind
täuschen.
An einer Straßenkreuzung erhält
man von den Einwohnern
einen Blechteller mit warmer
Suppe.
Auf dem weiteren Weg nach
Berlin lässt man sich nun
nicht mehr aufhalten, das Ziel
erscheint immer näher. Mit der
Hoffnung, die Verwandten dort
heil anzutreffen, begibt man
sich mit letzter Kraft auf den
weiteren beschwerlichen Weg.
Man passiert dann bald den
Ort Müncheberg, wiederum
sind Ortseinwohner bemüht,
die Menschen aus dem Treck
mit heißem Tee und Essen zu
versorgen. Mit vielen Leidgenossen
nimmt man danach
den weiteren Weg auf, mit
Rucksack und Handbeutel
beladen, der Handwagen hat
sich schon längst in Einzelteile
aufgelöst.
Man hat sich bereits einiger
weiterer entbehrbarer Habseligkeiten
entledigt, diese in den
Straßengräben geworfen, um
Kräfte für den weiteren Weg zu
sparen. Am Ortseingang Marzahn
kommt uns das Glück zur
Hilfe. In einer langen Warteschlange
bei einem Bäcker
steht Mutter Ernas Cousine
Elly und beobachtet, wie sich
der Treck mit vielen hunderten
Menschen auf Berlin zu bewegt.
Sie erblickt uns, kommt
auf uns zu, ist überrascht und
sprachlos zugleich, bricht in
Freudentränen aus und zeigt
tiefes Mitgefühl für unser bisheriges
Leid. Man fällt sich in
die Arme und ist überglücklich,
einen bekannten Menschen
bei sich zu haben, mit dem wir
unsere Sorgen teilen können.
Für einige Tage nimmt uns
Elly in ihrer kleinen, vom Krieg
nicht zerstörten Wohnung auf.
Sie setzt sich umgehend mit
Richard Schwalowsky, Bruder
von Mutter Erna, in Verbindung
und teilt ihm unsere
Anwesenheit mit.
Onkel Richard, Inhaber eines
kleinen Getränkehersteller-
Unternehmens, kommt nach
einigen Tagen mit seinem Dreirad-
Auto nach Marzahn und
holt uns mit unseren wenigen
noch verbliebenen Gepäckstücken
ab. Er hat sein Anwesen
in Berlin-Charlottenburg, wir
fahren quer durch das völlig
zerstörte Berlin, der Eindruck
der gespenstisch in den Himmel
ragenden Ruinen bleibt
unvergesslich. Zum ersten Mal
passiere ich in meinem Leben
(und dies auf der Ladefläche
eines Auto-Dreirades) das
Brandenburger Tor, die Straße
„Unter den Linden“ sowie die
Siegessäule. Angekommen
in der Richard-Wagner-Str. in
Charlottenburg nimmt uns die
Familie Richard Schwalowsky
wieder für einige Tage auf.
Weitere Verwandte aus unserer
Familie haben bereits
Zuflucht bei Schwalowskys
gefunden. Sie organisieren
für alle eine Schlafstatt und
versorgen uns mit den notwendigen
Nahrungsmitteln zum
Überleben. Das Ziel unseres
beschwerlichen Weges ist jedoch
die Stadt Dessau/Anhalt,
da wir vom Glauben besessen
sind, dort unseren Vater Otto
bei seinen beiden Schwestern
Anna und Emma nach
der Rückkehr aus dem Krieg
wiederzufinden. Wir begeben
uns nach einigen Tagen auf
die Reise, dieses Mal mit dem
Zug vom Lehrter Bahnhof in
Richtung Dessau.
Bedingt durch die Kriegseinwirkungen
findet jedoch kein
regelmäßiger Zugverkehr statt.
Nach langem Warten auf dem
Bahnsteig fährt ein bereits voll
besetzter Personenzug endlich
ein, man hat große Mühe,
noch einen Stehplatz zu finden.
Menschen drängen sich
mühevoll in die Abteile und
Gänge. Trittbretter und Puffer
werden als Mitfahrgelegenheit
genutzt, die Menschen setzen
sich der Gefahr aus, bei fahrendem
Zug hinunter zu fallen.
Nach einigen Stunden Fahrtzeit
angekommen in Rosslau/
Elbe ist Endstation. Ursache
ist die vollkommen zerstörte
Elbebrücke, ein Überqueren
auch zu Fuß ist ausgeschlossen.
Und dies 6 Kilometer vor
dem eigentlichen Ziel Dessau/
Anhalt.
Es spricht sich herum, dass
die Elbebrücke in Wittenberg/
Lutherstadt nicht zerstört ist
und sich dort eine Möglichkeit
bietet, über Bitterfeld nach
Dessau zu gelangen. Der Zug
nach Wittenberg, ebenfalls
wieder überbesetzt, bringt
uns wohlbehalten in Wittenberg/
Hauptbahnhof an. Der
Anschlusszug nach Bitterfeld
lässt nicht lange auf sich
warten, Menschen mit Rucksäcken,
Taschen, Beuteln
und sonstigem Hab und Gut
drängen und quetschen sich
wiederum auf Trittbrettern und
Puffern des Personenzuges,
um endlich die Weiterfahrt
antreten zu können. Viele
Menschen bleiben jedoch auf
dem Bahnsteig zurück, in der
Hoffnung, eventuell mit dem
Einfahren des nächsten Zuges
einen Platz zu ergattern. Die
Einfahrt in den Bitterfelder
Bahnhof bleibt jedoch versagt.
Kurz vor der Muldebrücke, in
der Nähe von Friedersdorf,
stoppt der Zug. Grund ist, dass
die russischen Besatzungsbehörden
keinen Menschentransport
über die Mulde nach
Bitterfeld ohne ihre Erlaubnis
dulden. Alle Menschen werden
aufgefordert, die Abteile
sowie den Zug zu verlassen.
Nunmehr ist man wieder sich
selbst überlassen, ausgesetzt,
verachtet und nicht geduldet.
Man schließt sich einer Gruppe
Menschen an, welche beabsichtigen,
quer über Wiesen
und Felder entlang des Muldeufers
die Ortschaft Friedersdorf
aufzusuchen. Nach einer
Stunde Fußweg über nasse
Wiesen und Gestrüpp erreicht
man völlig erschöpft den
kleinen Ort Friedersdorf bei
Bitterfeld. Man sammelt sich
auf dem Dorfplatz, um notwendige
weitere Informationen zu
erhalten.
Durch einen Sprecher der Einwohner
werden wir informiert,
dass die russische Besatzungsbehörde
Passierscheine
für die Überquerung der Mulde
ausstellt. Hunderte von Menschen
stehen in einer Schlange
an, um in den Besitz eines
Passierscheines zu gelangen.
Mutter Erna gelingt es an
diesen späten Abend nicht
mehr, eine solchen zu erhalten.
Eine freundliche Familie
aus dem Ort bietet uns als
Schlafstatt die Wachküche auf
dem Hof an und versorgt uns
mit Nahrungsmitteln. Man ist
sehr froh, noch vor Einbrechen
der Dunkelheit eine Unterkunft
gefunden zu haben. Am nächsten
Morgen gelingt es Mutter
Erna, den Passierschein zu
erhalten. Man begibt sich über
eine provisorisch angelegte
Holzbrücke auf dem Weg nach
Bitterfeld, mit dem Ziel Hauptbahnhof,
um dort einen Zug
nach Dessau zu erreichen. Am
Ortseingang Bitterfeld passieren
wir einen Bäckerladen, wir
erhalten ein Brot, welches uns
die Inhaberin kostenlos überlässt.
Danach verabschieden
wir uns von unseren bisherigen
Mitbegleitern.
Tante Frieda Mertins und
deren Sohn Rudi, welche
sich als Ziel Sötern im Saarland
gewählt haben, da dort
ihre Töchter Ilse und Traude
ansässig sind, suchen nach
einer Zugverbindung in diese
Richtung. Nach Erreichen des
Hauptbahnhofes Bitterfeld
nehmen wir den Personenzug
nach Dessau. Angekommen
am Dessauer Bahnhof bietet
sich ein schreckliches Bild.
Auf den Bahnsteigen liegen
Trümmerteile umher, allerlei
zerstörte Bahngleise, Lampen
und weitere Bahnhofausstattungen.
Um nach Aussteigen
aus dem Zug auf den Bahnhofsvorplatz
zu gelangen,
müssen Schutt-und Trümmerberge
überwunden werden.
Es beginnt nun die Suche
nach unseren Angehörigen.
Die Adresse Friederikenstr.
Nr. 20 ist uns wohl bekannt,
jedoch hat man bedingt durch
die unübersehbaren Trümmerberge
jegliche Orientierung
verloren. Wir nehmen eine
Hauptrichtung und treffen auf
einen Ortspolizisten, welcher
uns den Weg weist.
Schon beim Erreichen der
Friederikenstr. sehen wir bereits,
dass ausnahmslos alle
Häuser in Schutt und Asche liegen.
Entsetzt und erschöpft zugleich
denken wir dies ist das
Ende unserer langen Reise.
An einem Mauerrest des
Hauses Nr. 20 entdecken wir
jedoch einen mit weißer Kreide
gezogenen Schriftzug „ Wir
leben noch, wohnen Hallesche
Str. Nr. 30a“ Langsam sinkt die
Mutlosigkeit und mit allerletzter
Kraft begibt man sich auf die
Suche nach dieser Adresse.
Dabei hilft wiederum ein Streifenpolizist.
Unsere Angehörigen,
mit denen wir uns weder
auf dem Postweg noch mittels
Telefon verständigen können,
nehmen uns auf und sind froh,
dass wir diese Flucht und Vertreibung
überstanden haben.
So bewohnen wir anfangs eine
kleine Wohnung gemeinsam
mit Tante Emma, welche ausgebombt
ist und Zuflucht bei
ihrer Schwester Anna findet,
mit Onkel Karl und dem Ehepaar
Grigo.
Nach einigen Tagen völliger
Erschöpfung erfährt man Ruhe
und Geborgenheit und sammelt
erste Eindrücke von der
neuen Umgebung. Zunächst
ist die Unterbringungsfrage
zu klären, denn 8 Personen
in einer kleinen Zweizimmerwohnung
ist nicht zuzumuten,
eine ständige Wohngemeinschaft
aufrecht zu erhalten. So
ergibt sich bald eine kleine,
aber dennoch befriedigende
Lösung, indem Schwester
Rosalinde eine Anstellung mit
Unterkunft in der Gaststätte
„Tornauer Hof „ bei der Familie
Behnke findet.
Tante Emma gelingt es, beim
Schneidermeister Bajohr in der
Tornauer Str. ein Zimmer als
Untermieterin zu beziehen.
Den noch verbliebenen 6 Personen,
Tante Anna, Onkel Karl,
Ehepaar Grigo, Mutter Erna
und Sohn Otto reicht die kleine
Wohnung aus und alle rücken
etwas zusammen. Nachdem
man sich nunmehr mit der
neuen Lebenssituation abgefunden
hat, ist die vordringlichste
Aufgabe, die tägliche
Versorgung mit Lebensmitteln
abzusichern. So findet man
allerlei Möglichkeiten, entsprechende
Nahrungsmittel zu
beschaffen. Onkel Karl‘s Beziehungen
und Verbindungen
zu Bauern und Bekannten aus
dem Raum Gröbzig werden
genutzt, um uns mit Waren
zu versorgen, welche vielen
Menschen derzeit nicht zugänglich
sind, zum Beispiel
Äpfel, Birnen oder Mehl usw.
Im Schlafzimmer befindet sich
ein großes Holzfass gefüllt mit
Kleie, daraus wird fast täglich
Suppe angerichtet, welche
manchmal ungesüßt genossen
werden muss, da weder Zucker
noch Süßstoff vorhanden
ist.
Onkel Karl bemüht sich sogleich
um die schulische Ausbildung
von Otto und schult
ihn in die Knabenmittelschule
in Dessau, Mauerstr., ein, mit
Unterrichtsstoff
der 6. Klasse.
Es finden sich unter Mitschülern
bald Spielgefährten und
Freunde, welche nach Unterrichtsschluss
allerlei Dinge
ausbaldowerten.
So sind zum Beispiel die
Ruinen der völlig vom Krieg
zerstörten Stadt Dessau ein
verlockendes Ziel, um etwa
noch Verborgenes aufzuspüren
oder in den Trümmern von
Haus zu Haus umher zu klettern,
ohne um die Gefahren
einstürzender Gebälke und
Mauerreste zu wissen.
………………
Auszug aus einer Erzählung von Otto Briese
Am Nibelungenbad 84
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Erstellt am 30.08.2016 - Letzte Änderung am 30.08.2016.